Die Kunst des Loslassens

Loslassen, was geschehen ist

Ein junger und ein alter Mönch laufen einen Pfad entlang. Sie kommen zu einem Fluss mit starker Strömung. Als sie sich bereit machen, ihn zu überqueren, sehen sie eine hübsche junge Frau, die nicht ans andere Ufer gelangt. Sie bemerkt die Mönche und bittet sie um Hilfe. Der alte Mönch nimmt sie auf die Schulter und trägt sie über den Fluss. Sie bedankt sich und geht ihrer Wege. Der junge Mönch ist sauer. So richtig sauer.

Stunden später ist er noch immer sauer. Der alte Mönch fragt ihn, was los ist. „Als Mönche ist es uns nicht erlaubt, junge Frauen anzufassen! Wie konntest Du sie über den Fluss tragen?“. Der alte Mönch antwortet: „Ich hab die Frau vor Stunden am Ufer gelassen, aber wie’s aussieht, trägst Du sie noch immer mit Dir herum.“

Loslassen, was man zu sehr will

Ein Schüler geht zu einem Meister. Er sagt, er wolle unbedingt dessen Kampfkünste lernen. Und fragt, wie lange das wohl dauern würde. „Zehn Jahre“, antwortet der Meister.

Der ungeduldige Schüler ist nicht zufrieden mit dieser Antwort. Das muss doch schneller gehen, denkt er. Also betont er, er wolle es wirklich schneller schaffen und sei bereit, jeden Tag mindestens 15 Stunden hart daran zu arbeiten, ach was, Tag und Nacht, wenn’s sein muss, wirklich unbedingt wolle er das. Wie lange es denn in diesem Fall dauern würde? „Zwanzig Jahre“, antwortet der Meister.

„Ich verstehe nicht, Meister“, sagt der enttäuschte Schüler, „warum es dann noch länger dauern soll?“

„Es ist Dein übermäßiges Wollen, das Dir Kraft entzieht. Wenn Du ein Auge auf dem Ziel hast, kannst Du nur noch mit einem Auge auf den Weg schauen.“

Loslassen, was man zu wissen glaubt

Ein Professor besucht den Meister. Da spricht und spricht der Professor über alles, was er über Zen weiß, will diskutieren. Der Meister steht auf und holt eine Kanne Tee. Er gießt Tee in die Tasse seines Besuchers, mehr und mehr, der Tee läuft links und rechts die Tasse herunter, füllt die Untertasse, überschwemmt auch diese. Da kann der Professor nicht weiter an sich halten.

„Was tust Du da, es ist längst mehr als voll, da passt doch nichts mehr rein!“

„Wie diese Tasse“, sagt der Meister, „bist Du überfüllt von Deinen Meinungen und Spekulationen. Wie soll ich Dir Zen zeigen, wenn Du nicht zuerst Deine Tasse leer machst?“

Loslassen, womit man sich im Leid verstrickt

„Meine Frau hat mich verlassen“, klagt der Mann dem Meister. „Diese Schlampe, ich bin so wütend auf sie, jeden Tag schmiede ich Rachepläne, und es wird einfach nicht besser. Warum ist das Leben so schwer?“ Da antwortet der Meister: „Wenn wir verletzt werden, ist es, als würde uns ein Pfeil treffen. Das ist Schmerz. Es tut weh. Doch es gibt noch einen zweiten Pfeil, unsere Reaktion auf die Verletzung, unser Zorn, unsere Sehnsucht nach Rache. Dieser zweite Pfeil geht über den Schmerz hinaus. Das ist Leiden.“