Gichin Funakoshi

Gichin Funakoshi (* 1868; † 1957) ist der Begründer des modernen Karate-Do. Aufgewachsen in Okinawa, gründete er das heute bekannte Karate im Shotokan-Stil und brachte die bis dahin im Geheimen trainierte Kampfkunst zu Beginn des 20.Jahrhunderts an die Öffentlichkeit. Dabei betrachtete er Karate nicht nur als Selbstverteidigungsmittel, sondern vielmehr auch als Werkzeug, um Körper und Geist zu vervollkommnen.

Obwohl er nach eigenen Aussagen in der Kindheit eher klein und kränklich war, fing er im Jugendalter unter Meister Yasutsune Azato an, Okinawa Karate zu erlernen. Obwohl er sich entschloss, Karate zu seinem Lebensweg zu machen, blieb Funakoshi beruflich fast immer Hauptschullehrer. Zuerst verbreitete er Karate auf Okinawa, wo er es dann auch schaffte, Karate in den Sportunterricht an der Schule zu integrieren.1922 reiste Funakoshi als Leiter einer Delegation aus Okinawa nach Tokio und stellte dort Karate erstmals der japanischen Öffentlichkeit vor.

Aufgrund des großen Interesses blieb er in der japanischen Hauptstadt, um weiter zu unterrichten. Um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, arbeitete er in Tokio als Hausmeister, Karatelehrer, Gärtner und Putzmann. Erst nachdem er es geschafft hatte, Karate in Japan bekannter zu machen, konnte er sich von seiner Tätigkeit als Karatelehrer ernähren.

Der Stil wurde nach seinem Künstlernamen „Shoto“(= Pinienrauschen), unter dem er Gedichte schrieb, und seinem ersten richtigem Dojo Shotokan (Kan = Haus) benannt. Funakoshi selbst lehnte es ab, sein Karate als eigenen Stil oder gar Shotokan-Karate zu bezeichnen. Für ihn gab es nur „ein“ Karate. Es waren seine Schüler, die das Karate ihres Lehrers von dem Karate anderer Schulen abgrenzen wollten.

Zeit seines Lebens folgte Funakoshi einem strengen Ehrenkodex. So lehnte er es zum Beispiel ab, „schmutzige“ Worte wie Socke oder Toilettenpapier zu benutzen. Auch war Funakoshi ein sehr friedfertiger Mann, der versuchte, den Kampf wann immer möglich zu vermeiden. So gab er zum Beispiel einmal Dieben den Kuchen, den er als Opfergabe für seine Ahnen vorgesehen hatte, nur um den Konflikt mit den beiden ihm wahrscheinlich unterlegenen Männer zu vermeiden.

Warum nannte er sich Shoto (Pinienrauschen)?

„…Ich werde oft gefragt, wie ich dazu kam, den Künstlernamen Shoto anzunehmen, welcher dann der Name des neuen Dojo wurde.

Das Wort Shoto bedeutet „Pinienrauschen“ und hat somit keine großartige, geheimnisvolle Bedeutung, aber ich möchte doch erzählen, warum ich das Wort wählte.

Meine Heimatstadt, die Festung Shuri, ist von Hügeln umgeben, die mit Wäldern der Ryukyu-Pinie und subtropischer Vegetation bewaldet sind. Wenn ich Zeit hatte, ging ich oft am Tarao-Berg spazieren, manchmal auch nachts bei Vollmond oder wenn der Himmel klar war und man unter einem Sternenhimmel stand. Wenn zu solchen Zeiten außerdem noch etwas Wind wehte, konnte man das Rauschen der Pinien hören und das tiefe, undurchdringliche Geheimnis fühlen, welches in der Wurzel allen Lebens liegt. Für mich war das Murmeln der Pinien immer eine göttliche Musik.

Zu jener Zeit praktizierte ich bereits mehrere Jahre lang Karate, und ich wurde mir, je vertrauter ich mit der Kunst wurde, ihrer geistigen Natur bewusst. Meine Einsamkeit zu genießen, während ich dem Wind zuhörte, wie er durch die Pinien rauschte, schien mir eine vorzügliche Möglichkeit zu sein, den Geistesfrieden zu erreichen, den Karate erfordert.

Und da dies seit meiner frühen Kindheit zu meinem Leben gehörte, entschied ich mich, dass es keinen besseren Namen als Shoto gab, um die Gedichte zu unterzeichnen, die ich schrieb.“

Artikel aus: Karate Do – Mein Weg, 1956 von Gichin Funakoshi


Regeln fuer das Verstaendnis von Karate-Do von Meister Funakoshi

„Um es deutlich zu sagen, der beste Weg zum Verständnis des Karate-Do führt nicht nur über das bloße Üben der Kata, sondern über ein Verständnis der Bedeutung, die den verschiedenen Kata innewohnt.

Da ich jedoch die Kata ausführlich im KARATE-DO-KYOHAN behandelt habe, möchte ich hier nur sechs Regeln erwähnen, deren genaue Befolgung für jeden unerlässlich ist, der sich um ein volles Verständnis der Kunst bemüht.“

 

1. Betreibe das Karatetraining todernst. Wenn ich das sage, so meine ich nicht, dass man fleißig und ehrgeizig üben soll. Ich meine damit, dass der Gegner immer im Geist gegenwärtig sein muss, gleichgültig ob man sitzt, steht, läuft oder seine Arme hochhebt. Wenn man im Kampf einen Karateschlag einsetzt, so muss man sich darüber klar sein, dass dieser eine Schlag alles entscheidet. Wenn man einen Fehler gemacht hat, wird man derjenige sein, der verliert.
Man muss immer auf so eine Möglichkeit vorbereitet sein. Man kann lange Zeit trainieren, aber wenn man dabei nur lernt, seinen Arme und Beine zu bewegen und auf und ab zu hüpfen wie eine Puppe, so unterscheidet sich das Karatetraining nicht sehr vom Tanzunterricht. So erreicht man das wichtigste nicht; man hat die Quintessenz des Karate-Do versäumt. Vollkommenen Aufmerksamkeit ist nicht nur für einen Schüler des Karate-Do, sondern auch im täglichen Leben äußerst wichtig, da das Leben immer ein Kampf ums Überleben ist. Jeder, der so gleichgültig ist anzunehmen, er hätte nach einem Fehlschlag einen zweite Chance, wird selten viel Erfolg im Leben haben.

2. Trainiere sowohl mit dem Herzen als auch mit der Seele, und kümmere Dich nicht um die Theorie. Sehr oft wird jemand, dem diese Fähigkeit der vollkommenen Ernsthaftigkeit fehlt, seinen Zuflucht zu Theorien nehmen. Nehmen wir zum Beispiel an, jemand trainiert seit ein paar Monaten ein bestimmtes Kata und sagt dann mit einem erschöpften Seufzer: „Egal wie hart ich übe, ich kann diese Kata nicht meistern. Was soll ich nur tun?“ Ein paar Monate! Wie kann er ein Kata in ein paar Monaten meistern wollen?  Das KIBA-DACHI („Reiterstellung“) zum Beispiel sieht sehr einfach aus, aber Tatsache ist, dass niemand es beherrschen kann, auch wenn er ein ganzes Jahr übt, bis ihm seine Füße so schwer werden wie Blei. Was ist es dann für ein Unsinn, wenn sich jemand beschwert, er könne ein Kata nicht beherrschen! Richtiges Üben geschieht nicht mit Worten, sondern mit dem ganzen Körper.
„Andere haben das Kata, welches Du übst, gemeistert. Warum schaffst Du es nicht? Machst Du etwas falsch?“ Dies sind die Fragen, die man sich stellen muss; dann muss man trainieren, bis man vor Erschöpfung zusammenbricht; dann muss man sofort nach den gleichen Richtlinien weitertrainieren. Was man aus den Worten anderer lernt, wird man sehr schnell wieder vergessen; was man mit seinem ganzen Körper gelernt hat, daran wird man sch sein Leben lang erinnern.
Karate-Do beinhaltet eine große Anzahl von Kata, Basiswissen und Techniken, so dass kein Mensch alles in kurzer Zeit erlernen kann. Außerdem wird man sich, wenn man nicht die Bedeutung jeder Technik und jedes Kata versteht, niemals an all die verschiedenen Kenntnisse und Techniken erinnern können, gleichgültig, wie hart man auch übt. Alle sind miteinander verknüpft, und wenn man nicht jede voll versteht, wird man, auf lange Sicht gesehen, scheitern. Aber wenn man einmal eine Technik völlig beherrschen gelernt hat, wird man den Zusammenhang mit anderen Techniken erkennen. Man wird, mit anderen Worten, zu der Einsicht gelangen, dass alle der ca. zwanzig Kata auf ein paar wenige grundlegende zurückgeführt werden können. Wenn man deshalb ein Kata ganz gemeistert hat, wird man bald auch die anderen verstehen können, selbst wenn man nur zuschaut, wie sie vorgeführt werden, oder wenn man sie während eines Unterrichts gezeigt bekommt.

3. Beim Erlernen einer Technik muss diese tiefgründig erfasst und verstanden werden.

4. Vermeide Eingebildetheit und Dogmatismus. Jemand, der in großen Tönen angibt oder die Straße herab stolziert, als ob sie ihm gehören würde, wird niemals wahren Respekt ernten, obwohl er vielleicht wirklich sehr fähig im Karate oder in einer anderen Kampfkunst ist. Es ist sogar noch absurder, wenn man die Selbstbeweihräucherungen von jemandem hört, der dieses Können gar nicht besitzt. Im Karate ist es normalerweise der Anfänger, der der Versuchung nicht widerstehen kann, anzugeben oder sich herauszustellen; aber in dem er dies tut, entehrt er nicht nur sich, sondern auch die von ihm erwählte Kunst.

5. Versuche, Dich selbst zu erkennen und das gute in der Arbeit anderer anzunehmen. Als Karateka wird man selbstverständlich oft andere üben sehen. Wenn dies geschieht und man dabei starke Punkte in den Vorführungen andere entdeckt, so soll man, wenn möglich, diese in die eigene Technik aufnehmen. Gleichzeitig sollte man sich, wenn man bemerkt, dass der Übende nicht sein Bestes gibt, fragen, ob man es ebenfalls an Fleiß fehlen lässt. Jeder von und hat gute und schlechte Eigenschaften; der weise Man versucht, den guten Eigenschaften, die er an anderer bemerkt, nachzueifern und die schlechten zu vermeiden.

6. Halte an den ethischen Regeln des täglichen Lebens fest, gleichgültig ob in der Öffentlichkeit oder im Privaten. Dies ist ein Prinzip, das man genauestens befolgen sollte. In den Kampfkünsten, besonders im Karate-Do, machen viele Neulinge große Fortschritte, und manche werden eines Tages bessere Karateka als ihre Ausbilder sein. Viel zu oft höre ich Lehrer von ihren Schülern als von OSHI’EGO („Schüler“), MONTEI („Lehrling“), DESHI („JÜNGER“) oder KOHAI („Junior“) sprechen. Ich glaube, solche Begriffe sollten vermieden werden, da vielleicht einmal die Zeit kommen wird, da der Schüler den Lehrer überholt. Der Ausbilder geht gleichzeitig, wenn er solche Ausdrücke benutzt, das Risiko der Selbstzufriedenheit ein und die Gefahr, dass eines Tages der junge Mann, von dem er so leichtfertig gesprochen hat, ihn nicht nur einholen, sondern überholen wird – in der Kunst des Karate oder auf irgend einem anderen Gebiet des menschlichen Lebens.