Karate ist ein Helfer der Gerechtigkeit

Auch dieser Leitsatz stammt aus Meister Funakoshis Shotonijukun und wird dort an dritter Stelle erläutert. Er hebt darauf ab, dass die Übung der Kampfkünste einen Geist entwickelt, der im Alltag der Gerechtigkeit dient.

Der Gerechtigkeit ist nicht genüge getan, wenn die Gesetze das Denken ersetzen, sondern erst wenn das Gesetz durch Nachdenken verstanden wird. Ein guter Bürger achtet jedoch das Gesetz, auch wenn sie manchmal seinem persönlichen Rechtsempfinden widersprechen. Sie sind es, die das menschliche Zusammenleben ermöglichen. Ohne sie wären die Strukturen der Gesellschaft gefährdet und die zwischenmenschlichen Beziehungen zerrissen. Ihre Missachtung stört die Ordnung und vermindert die Lebensqualität.

Doch oft haben die Menschen kein eigenes Rechtsempfinden, sondern vertreten unüberprüft die Gesinnung ihrer Kaste. Eigenes Rechtsempfinden entsteht erst dort, wo der Mensch über die Gesetzesregeln hinaus ein gerechtes Verhalten entwickelt, dem gegenüber er zur Verantwortung bereit ist. Unreife Menschen werden auch durch das Gesetz nicht gerecht, da ihr Rechtsempfinden um ihr Ich kreist, das keine Kompromisse verträgt.

Deshalb gibt es keine Gerechtigkeit durch das bloße befolgen der Gesetze. Die Gesetze sind nur das Schema, in dem die menschliche Feinabstimmung nicht fehlen darf. Diese liegt im Bereich der inneren Fähigkeiten jedes einzelnen. Sie bedarf der Entdeckung und der Pflege des rechten Menschen, weit über das intellektuelle Verständnis hinaus.

Das Gesetz allein, ohne persönliches Gewissen, erzeugt eine gefährliche Gesinnung. Diese verhärtet sich im Glauben an ein ewiges Rechthaben, das sich durch gekaufte Rechtsinterpreten jederzeit theoretisch beweisen lässt. Damit ist der Gerechtigkeit nicht gedient, denn hinter dem Menschen mit der stets weißen Weste kann sich alles Mögliche verbergen. Gerechtigkeit besteht oft darin, eher Unrecht zu erleiden, als Unrecht zu tun.

Das Rechtsempfinden bedarf des reifen Denkens, das nicht durch das Studium der Gesetze, sondern durch Selbsterkenntnis erworben wird. Es steht nie bedingungslos im Zeichen irgendeiner Regel, sondern bewahrt sich immer die Freiheit der eigenen Entscheidung in der jeweils aktuellen Situation. Das Gesetz kann bei der Entscheidung helfen, doch es kann sie nicht ersetzen.

Artikel aus: Der geistige Weg der Kampfkünste von Werner Lind