Nachdem sich der Interessierte für eine der beiden Richtungen entschieden hat, muss er Vereine und Schulen besuchen, sich die Lehrer und Übungsgruppen ansehen und danach seine Entscheidung treffen.<br.>Wenn ein Verein oder eine Schule nur gute Techniker hat, sind damit nicht automatisch Wegvoraussetzungen gegeben. Vom Weg im Sinne des budō kann man erst dann sprechen, wenn eine Gemeinschaft beides verwirklicht: Die technische Kampfkunst und das budōgemäße Miteinander. Wenn die dōjōkun und die Etikette fehlen, ist kein budō möglich.<br.>Hier beginnt die Schwierigkeit. Das budōgemäße Miteinander wird von vielen Übenden mit ihrer individuellen Ansicht über rechtes Verhalten verwechselt, und dieses befindet sich in den meisten Fällen im Ungleichgewicht zur Gruppe. Für den erfahrenen Lehrer bietet das Verhalten des Einzelnen in der Gruppe den Hauptansatzpunkt zur Weglehre. Die intakte Gruppe hat von vorneherein keinen besonderen Sinn, sie ist jedoch das wichtigste Bewährungsfeld bei der Entwicklung vom Schüler zum Meister – sie bietet einen Übungsraum, in dem Anpassung an das „Ganze“ UND Bewahrung des „Eigenen“ in gleichem Maße möglich werden – wo dieses Verhältnis verletzt wird, erfährt der entsprechende Schüler keinen Fortschritt.<br.>Die ungeformte Individualität des Einzelnen steht der Weglehre, also auch der Budō-Gemeinschaft, immer entgegen. Weg bedeutet ein verinnerlichtes Verständnis des Miteinander, unreife Individualität sucht die Abgrenzung gegen den anderen. Daher wird das Verhalten in der Gruppe zur Übung des Weges und muss vom Lehrer ebenso verbessert werden wie ein Fehler in der Technik. Wenn das nicht geschieht, gibt es keine Wegübung.
Wenn ein Interessent die Kampfkünste unter einem sensei in einem klassischen dōjō erlernen will, muss er in erster Linie dazu bereit sein, die vom senseieingeforderte Verhaltensetikette uneingeschränkt zu respektieren. Die Verhaltensetikette ist eine beidseitige Pflicht: Der sensei MUSS sie einfordern, da ohne sie seine Schülergruppe im Chaos endet, und der Übende MUSS sie respektieren, da er ansonsten die Lernabsichten seiner Mitübenden stört. Beides sind unveränderbare Grundbedingungen, ohne die eine Lehrer-Schüler Beziehung nicht zustande kommt.<br.>Um den Weg (dō) unterrichten zu können, müssen Lehrer bescheiden sein, sich öffnen und dem Schüler auch die verborgenen Seiten ihrer Seele zeigen. Im Gegensatz dazu besteht die Gefahr, dass der Lernende das Vertrauen verliert, da budō ein „Weg der Demut“ und kein „Weg des Geltens“ durch Wissen oder Können ist. Lehrer müssen bescheiden die Grundlagen (kihon, kata, kumite) unterrichten und dürfen sich nicht in immer neue Kreationen aus ihrer Vorstellung begeben. Dadurch verlieren sie die Linie und geraten ins Abseits. Maxime wie „wer zuerst kommt, mahlt zuerst“ oder „der Kunde ist König“ oder „die neue Technik ist die Beste“ gelten im budō nicht. Im budō gilt es, die Qualität in den Grundlagen zu verbessern und nicht immer wieder neue Technik-Formen zu lernen.
Noch vor der Technik interessiert den Lehrer, welches menschliche Potenzial sein Schüler mitbringt. Ist dieses gering, wird der sensei ihn nicht in der Essenz seiner Lehre unterrichten, selbst wenn sein Talent groß ist.<br.>Jene, die mit naiven Vorstellungen in ein klassisches dōjō kommen, können ihre Meinung durch Bereitschaft und Lernen revidieren. Tun sie das nicht, werden sie auch nicht in die engere Auswahl (uchi deshi) eines Lehrers fallen. Gleich auf welcher Stufe sich der Schüler befindet, wird der sensei immer nur sein Potenzial zum Wachsen und nicht seinen Ist-Stand betrachten.
Neben dem menschlichen Potenzial ist für den Lehrer die Bereitschaft seiner Schüler zur Disziplin, zum Durchhaltevermögen und zur Verantwortung von größter Bedeutung. Kein Schüler sollte dies unterschätzen. Um in den Kampfkünsten wachsen zu können, muss der Schüler seinen Wert für andere zeigen. Um diese Fähigkeit zu testen, übertragen die Lehrer immer wieder neue Verantwortung auf den Schüler – manchmal auch inhaltlich bedeutungslose – denn ein Lehrer kann nicht genug Verantwortung an seine Schüler vergeben, um festzustellen, wo sie stehen. Im Budokan (Bensheim) des BSK gibt es daher personengebundene Verantwortlichkeiten für alle möglichen Bereiche: so z. B. für die Organisation der Trainingslager, für die Gestaltung der Homepage, des Fotoalbums oder der Anwesenheitslisten. Andere verantworten die Instandhaltung des dōjō, die Betreuung des Newsletters, usw.<br.>Die höchste Form der Verantwortung und des Vertrauensbekenntnisses an einen Schüler ist, wenn der Lehrer ihn in die Trainingsführung beruft und ihm gestattet, die Kampfkünste als Übungsleiter zu erfahren. Diese Positionen sind in jedem klassischen dōjō ein erstrebenswertes Ziel, und nur die besten Schüler können sie besetzen. Sie erhalten dadurch die Chance, die Kampfkünste auf einem höheren Niveau zu erfahren und in den „inneren Kreis“ um den Lehrer herum einzutreten.
In früheren Zeiten erwarteten die Lehrer von einem „inneren Schüler“ (uchi deshi), dass er in den „Kreis seines Hauses“ eintrat, weil nur auf diese Weise jene innige Beziehung zwischen Lehrer und Schüler entstehen konnte, durch die eine echte Lehre möglich wurde. Im heutigen Zeitalter ist dies nicht mehr dringend erforderlich, da der notwendige permanente Kontakt zum sensei über verschiedene Kommunikationsmedien möglich ist. Doch die zentrale Voraussetzung der Lehrer-Schüler-Beziehung hat sich dadurch nicht verändert: Wenn ein Schüler keinen Kontakt zu seinem sensei hält, ist er automatisch ein soto deshi (äußerer Schüler).
Jeder Lehrer und Übungsleiter hat seine eigene Unterrichtsmethode. Wichtig ist aber, dass sich alle am Prinzip der Weglehre (dō) orientieren und sich innerhalb der Fortschrittspyramide des Stils befinden. Bis zum 5. dan ist jeder Übende im Lernsystem eingebunden und muss persönliche Interpretationen mit seinem senseiabsprechen. Es ist die Pflicht des Lehrers, Egozentrik, Rechthaberei und Selbstsucht in den Reihen seiner Schüler zu unterbinden.<br.>Ein guter Lehrer lehrt nicht nur seine Kunst, sondern lenkt den Schüler zu seinem wahren Wesen, wodurch dieser zu einer eigenständigen Persönlichkeit wachsen kann. Dabei duldet der Lehrer weder Duckmäusertum noch Geltungssucht, denn er will den Schüler so, wie er wirklich ist. Ausgangs- und Endpunkt der Lehre ist die in der dōjōkun kodifizierte Etikette.<br.>Denn die Aura eines dōjō setzt sich aus der Summe der Haltungen all seiner Mitglieder zusammen. Erlaubt der sensei seinen Schülern Ausflüge in die Selbstgefälligkeit, entsteht eine schlechte Dōjō-Atmosphäre und verhindert das Wachstum der ernsthaft suchenden Schüler.<br.>Wenn Schüler mit negativen Haltungen vom sensei nicht zur Verantwortung gezogen werden, wenden sich die guten Schüler mit der Zeit vom dōjō ab und werden immer mehr durch oberflächliche Schüler ersetzt – ein dōjō zieht nur jene Schüler an, die zu seiner Atmosphäre passen.
Für jeden Lehrer ist es wichtig zu wissen, welches seine wirklichen Schüler sind. Diese Beurteilung ist zeitabhängig und muss immer wieder überprüft werden, denn erklärte Schüler bauen manchmal in ihrem Bemühen ab und lassen sich von anderen in Bezug auf technisches Vermögen und der Haltung zu den geistigen Werten des Weges überholen. Wenn ein Lehrer das nicht zur Kenntnis nimmt und ausschließlich auf eine hierarchische, graduierungsabhängige Pyramide baut, verschließt er vielen ernsthaft Übenden den Weg zum Fortschritt. Die Autorität der Inhaber höherer Grade wird im allgemeinen Bemühen um Geltung und Macht zum entscheidenden Hindernis für einen Aufstrebenden. Wenn der sensei dies nicht rechtzeitig unterbindet, führt es zu Disharmonien und letztlich zur Spaltung der Budō-Gemeinschaft.<br.>Die Gruppenpyramide richtet sich also nicht nur nach bestehenden Graduierungen, sondern auch nach dem Fortschrittsbemühen des Einzelnen, unabhängig von seiner Graduierung. Durch die Zeit zeigt sich dadurch auf der Pyramide eine ständige Bewegung auf ihrer Vertikalen, die der Lehrer zulassen muss und nur dann unterbinden darf, wenn die Etikette verletzt wird.<br.>Denn nach wie vor bleibt es die Aufgabe des Übenden – unabhängig von seinem Grad – seine Position auf der Vertikalen der Pyramide durch Bekenntnis, Loyalität und Bescheidenheit zu erhalten. Das Ziel jedes Lehrers ist es, seine Schüler auf ein solch hohes Niveau zu bringen, dass er selbst als lenkende Instanz überflüssig wird. Wenn ihm das gelingt, hat er seine Lehre richtig vermittelt.
Ein sensei beurteilt seine Schüler in erster Linie nach ihrem Verhalten und nur in zweiter Linie nach ihrer Technik. Überhebliche Schüler bringen Schande über ihren sensei, über ihr dōjō und über ihre Kunst, wenn sie sich in- und außerhalb ihres dōjō schlecht benehmen. Kein echter sensei wird dies dulden. Das Verhalten der Schüler fällt auf den sensei zurück.<br.>Es geschieht manchmal, dass Schüler die Lehre ihres sensei aus irgendwelchen Gründen nicht verstehen, seine Entscheidungen beanstanden und sich beleidigt zurückziehen. Oft hat das mit einem gewonnenen Selbstwertgefühl aus ihrer Fähigkeit zum Freikampf zu tun, wodurch manche durchaus überheblich werden und den wahren Wert des budō nicht mehr erkennen können.<br.>Doch mit einem gestörten Verhältnis zum sensei sind sie eine Gefahr für die Harmonie der gesamten Budō-Gruppe. Gute Kämpfer sind wie Kanonen – wenn der Geist fehlt, sind sie Waffen und werden stets von fremden Mächten bedient. Sensei Gichin Funakoshi pflegte in diesem Fall zu fragen: „Was nützt eine gute Technik, wenn die Philosophie fehlt?“
Ohne Ideal kann keine Budō-Gemeinschaft entstehen. Doch das Ideal hängt vom gegenseitigen Vertrauen ab, und dies entsteht nur dort, wo es persönliche Bindungen zwischen Lehrer und Schüler gibt. Doch Vertrauen ist immer eine gegenseitige Angelegenheit zwischen Lehrer und Schüler und liegt – wenngleich auf verschiedenen Ebenen – in der Verantwortung beider: Zum einen vertraut der Lehrer dem Schüler dahingehend, dass dieser loyal ist, dass er seine gelernte Kunst, sein dōjō und seine Budō-Gemeinschaft respektiert. Zum anderen vertraut der Schüler dem Lehrer darin, dass dieser ihn korrekt unterrichtet, auf den Weg (dō) bringt und ihm den Zugang zu den Hintergründen (ura) seiner Kunst eröffnet.<br.>Wenn der Lehrer es versäumt, das Budō-Ideal an die höchste Stelle zu setzen, etabliert er eine Budō-Gemeinschaft, die sich wie eine Schafherde verhält. Denn erst der Glaube an das Ideal verpflichtet innerlich dazu, sich vor etwas Höherem zu verbeugen, als man selbst ist. Dies beginnt mit der Respektsbezeugung vor den Fortgeschrittenen und dem Lehrer des eigenen dōjō, setzt sich mit der Verbeugung vor den Hauptlehrern des Stils fort und mündet letztlich in der Verneigung vor den das Ideal verkörpernden Meistern der Vergangenheit. Doch der Glaube an das Ideal der Vergangenheit allein kann schnell zu einer lediglich romantisierenden Tendenz werden, wenn er nicht sein Gleichgewicht im aktiven Bemühen um das Ideal in der Gegenwart erhält. So ist die Budō-Gemeinschaft selbst das Ideal und nicht irgendeine leere Theorie vom Weg.<br.>Wird budō ohne Etikette und Ideal unterricht, bilden sich Zweckbeziehungen zwischen den Schülern, die am Weg (dō) vorbeigehen. Es entsteht Oberflächlichkeit in der Haltung, Orientierungslosigkeit in der Zugehörigkeit und im Denken, und bei der ersten Wegschwierigkeit werden manche die Gruppe verlassen. Das Dilemma ist, dass in einer solchen Situation jeder für sich Recht hat, aber eine Annäherung unmöglich geworden ist.<br.>Wenn ein Hochgraduierter seine korrekte Haltung den weniger erfahreneren Schülern nicht vermitteln kann oder will, entsteht in der Gemeinschaft eine Mentalität, auf die der Lehrer kaum mehr Einfluss nehmen kann. Schüler orientieren sich oft nur an Übenden der nächsthöheren Fortschrittsstufe und ignorieren die Lehre des sensei, wenn sie am Beispiel ihrer senpai feststellen, dass man auch ohne Etikette weiterkommen kann. Es entsteht eine „Tu was dir gefällt“-Haltung.<br.>Das Beispiel ist besser als die Regel: Wer Tugend predigt, lehrt das Predigen, wer Tugend praktiziert, lehrt die Tugend. Im ersten Fall hat der sensei versagt.
Budō ist nach klassischem Verständnis kein Sport, sondern eine Möglichkeit der Selbstbetrachtung durch die körperliche Übung im Training. Gleichwohl kommt ein guter Schüler nicht umhin, sich über Hintergründe, das heißt z.B. über geschichtliche, philosophische und kulturelle Grundlagen der Budō-Inhalte, mit Hilfe von Publikationen seiner Lehrer und auf jede andere erdenkliche Weise zu informieren, aus ihnen zu lernen und später im eigenen Interesse sich an ihrer Erforschung zu beteiligen. Tut er dies nicht, verbaut er sich den Weg zum Fortschritt.<br.>Das Interesse und der persönliche Beitrag eines interessierten Schülers zu den aktuellen Forschungsarbeiten seiner sensei ist für seinen Fortschritt von wesentlicher Bedeutung. Er sollte alle Möglichkeiten wahrnehmen, seinem sensei zu zeigen, dass er zum Lernen bereit ist.
Innerhalb der Gruppenpyramide hat jeder Leher seine persönlichen Schüler, die er in einem recht undemokratischen Verfahren bestimmt. Das Entscheidungskriterium, das seine Wahl beeinflusst, ist nicht die technische Fähigkeit der Schüler, sondern ihr menschliches Potenzial.<br.>Die Schülergruppe, die durch diese Selektion entsteht, nennt man uchi deshi (Schüler im Inneren), und nur Mitglieder dieser Gruppe können vom sensei eines Tages das Zertifikat der Meisterschaft (menkyo kaiden, im BSK gebunden an den 5. dan) erreichen. Entfernen sie sich in irgendeiner Weise vom sensei, etwa indem sie ihr Bemühen um geistigen Fortschritt vernachlässigen und nur noch die Technik ins Zentrum ihrer Übung stellen, müssen sie den engen Kreis um den Lehrer wieder verlassen. Indem ein sensei in der Graduierungshierarchie den geforderten technischen Fortschritt an die Bereitschaft zu geistigem Fortschritt bindet, schafft er ein höheres Bewusstsein unter den Übenden.<br.>Im honbū dōjō des BSK (Budokan) gibt es ein allwöchentliches Training mit jenen Schülern, die vom sensei als uchi deshi angesehen werden. Zugelassen sind nur Schüler, die durch ihre Haltung und ihr Handeln den Anforderungen eines uchi deshi entsprechen und dies stetig unter Beweis stellen. Nimmt ihre Bereitschaft ab, müssen sie die Gruppe verlassen.
Ein Schüler des budō hat die Aufgabe, die Lehre seines sensei zu verstehen, in sich selbst nachzuvollziehen und mit eigenem Sinn und Inhalt zu füllen. In früheren wie in heutigen Zeiten bedeutete dies die Pflege des permanenten und intensiven Kontakts zum persönlichen Lehrer, zum Hauptlehrer und die Bereitschaft des Mitverantwortens der Budō-Gemeinschaft. Während dies früher fast nur durch eine Aufnahme in die Hausgemeinschaft des Lehrers über persönliche Traininge, mondōund den täglichen Umgang mit dem sensei und den Mitschülern zu verwirklichen war, gibt es in der modernen, von Informationsmedien geprägten Welt – auch über größere Entfernungen – zusätzliche Möglichkeiten, an der inneren Lehre eines sensei teilzuhaben. Dazu nutzt ein Schüler in erster Linie die Seminare seines sensei, aber auch Buch- und Video-Publikationen, Internet-Veröffentlichungen oder ausgewählte Forumsdiskussionen.<br.>Viele Schüler glauben heute, dass das Nutzen solcher zusätzlichen Möglichkeiten von geringer Bedeutung ist. Sie denken: „…wenn ich Fragen habe, wird mein Lehrer sie mir schon beantworten“, und verwechseln dadurch die Lehre des budō mit einem Kurs an der Volkshochschule. Denn ein Lehrer des budō entscheidet selbst, welchen Schüler er wann, wo und auf welche Weise unterrichtet. Er vermeidet das mundgerechte Beantworten von Fragen, wenn er beim Schüler einen Mangel an eigenem Bemühen und Kümmern feststellt.<br.>Die dem Schüler hinterhergetragene Lehre wird im budō oft mit dem Mann verglichen, der sein Boot durch die Wüste trägt. So wie dieser keinen Fluss zum Überqueren findet, wird auch der Schüler keine zu stellenden Fragen finden. Fortschritt entsteht daher nicht nur durch die unmittelbare Beantwortung von Fragen, sondern im Wissen darum, welche Fragen es zu beantworten gibt. Ehe jemand weiß, dass es Autos gibt, wird er kaum fragen, wie sie funktionieren.
Es ist festzustellen, dass die Philosophie der Weg-Lehre (dō) viele Schüler anzieht und fasziniert. Werden sie von ihrem Lehrer jedoch mit der praktischen Übung derselben konfrontiert, erscheint ihnen der Weg als recht beschwerlich. Zur Theorie sind viele bereit, zur Selbstbetrachtung und zum Überschreiten persönlicher Grenzen nur wenige.<br.>Theorie und technisches Training allein reichen daher zum Wachsen nicht aus. Beide müssen unter der Anleitung eines sensei zur Übung der inneren Haltung gebracht werden.<br.>Obwohl budō mit einer Religion im herkömmlichen Sinn nur wenig zu tun hat, sind die Vorgänge ähnlich. Viele Menschen in unserem Kulturkreis achten und berufen sich auf Werte, die die Bibel als zentrale Schrift des Christentums vermittelt. Den Anspruch an sich selbst, diese Werte tatsächlich zu praktizieren, haben jedoch nur wenige. Der Begriff „Religion“ geht auf das lateinische Wort religare zurück, was soviel wie „festbinden“ oder „anbinden“ bedeutet und deutlich bezeichnet, worum es in einer Glaubensübung zur Menschwerdung geht: Um die feste Bindung an ideelle Werte und ihre Verwirklichung im praktischen Leben.
Ein Übender der Kampfkünste sollte sich überlegen, welche Bedeutung er für andere hat, denn die Bedeutung, die er sich selbst gibt, ist kein realistischer Wert. Menschen mit Wert ziehen andere an, sie sind „interessant“ für ihre Mitmenschen, und entsprechend ist die Resonanz, die sie bewirken – sie haben für ihre Mitmenschen eine Botschaft. Langweiler, Egoisten, Selbstdarsteller, Nachahmer, Rechthaber und Besserwisser finden sich nur selbst interessant, doch sie erreichen ihre Mitmenschen nicht. Den engeren Kreis um den Lehrer können sie nicht betreten, denn nicht die Selbstdarstellung, sondern erst die Wertbezeugung durch die Haltung und Handlung macht die Bedeutung des Einzelnen aus.
Will jemand die Kunst des budō erlernen, darf er nicht erwarten, dass der sensei seine Meinungen und Theorien bestätigt. Tut er das, wird er enttäuscht sein, denn kein Lehrer „füllt Tee in eine volle Tasse“, sondern erwartet von seinem Schüler, dass er vorher „seine Tasse leert“.<br.>Für den sensei ist jeder Schüler zunächst ein ungeformtes Potenzial mit unfertiger Haltung. Manche aber glauben, dass sie den Weg (dō) verstehen können, indem sie auf bisher Gelerntes aufbauen. Sie bemühen sich nicht genügend, sind gleichgültig gegenüber empfohlenen Studienmöglichkeiten und erfahren dadurch nur wenig von hintergründigen Lehren des sensei.<br.>Die Bereitschaft zum Lernen drückt sich nicht durch passives Zuhöhren aus, sondern durch aktives Mitarbeiten. Ein lernbereiter Schüler kann sich dabei gar nicht genug beteiligen und ergreift dazu alle erdenklichen Möglichkeiten. Er sollte nicht erwarten, dass der sensei ihm die Weglehre hinterher trägt.
Bildung ist abhängig von der persönlichen Suche nach Sinn und Tiefe, von der Motivation, gesellschaftliche Vorbilder als Ideal zu erkennen und anzuerkennen, um die Welt nach ihrem Beispiel mit Neugierde zu erforschen. Wir schließen gerade ein Zeitalter ab, in dem die Entwicklung der Persönlichkeit durch „Spaßhaben“ verwirklicht werden sollte, während altgediente Werte in Frage gestellt und vorbildhaftes Handeln im Ego-Wahn der Moderne unterging.<br.>Professionalität war und ist in unserer Gesellschaft immer noch ein Schimpfwort und beleidigt den spaßabhängigen Durchschnittsbürger, dem in seiner Welt jede Idealfähigkeit, Bildung und Selbstverwirklichung feht. Der Ausflug in diese Ideologie der „demokratisch autorisierten Meinung ohne Bemühen um Inhalt und Erkenntnis“ der letzten Jahre hat Folgen auf den Gesamtzustand unserer Gesellschaft. Durch sie wird Dekadenz und Dummheit im Selbstverständnis der Menschen durchgehend als feste Größe angelegt und der unkontrollierte „kritische Geist“ autorisiert. Der pädagogischen Idee der vergangenen 50 Jahre war alles suspekt, was nach höheren Erkenntnissen strebte und die Mittelmäßigkeit der Massenmeinung überstieg. Begriffe wie Elite und Expertentum galten als Beleidigung der Volksmeinung – richtig war stets die demokratische Sicht der Dinge, auch wenn nach ihr die Haupstadt von Polen Moskau ist, der Amazonas durch Frankreich fließt und „Faust“ von Stalin geschrieben wurde.
Vor Gott und der Natur sind alle Menschen gleich – sie haben Zeit ihres Lebens dieselben Rechte und dieselben Pflichten, doch letztere werden von den Menschen in unterschiedlicher Weise für sich angenommen.<br.>Sicher sind alle Menschen in ihrem Lebenswert gleich, aber nicht in ihrem Bemühen, in ihrem Erkenntnisvermögen, in ihrer Kompetenz und in ihrer Leistung. Kombiniert sich diese Haltung mit dem „kritischen Geist“, kann sich der Mensch zu einem gefährlichen Potenzial für sich selbst und für andere entwickeln. Die Geschichte ist voller Beispiele von Katastrophen, die von Menschen mit dieser Haltung angerichtet wurden.<br.>Trotzdem gilt nach wie vor in unserer Gesellschaft der „kritischer Geist“ als Impuls zur Entwicklung der individuellen Persönlichkeit. Doch wenn er kein echtes Lernen, kein Bemühen um Erkenntnis und kein Verstehen von Zusammenhängen voraussetzt, ist er eine negative Kraft. Wilhelm Busch sagt es treffend: „Aufsteigend musst du dich bemühen, denn ohne Mühe sinkest du; der liebe Gott muss immer ziehen, dem Teufel fällt´s von selber zu.“<br.>Schüler, die nur kritisieren, sind nicht fähig, eine Gesellschaft der Forschung und Innovation voranzubringen, sie werden keine integren Stützen des Gemeinwesens. Lässt man eine solche Haltung zu, ohne ihr ein Maß zu geben, werden dadurch bestenfalls selbstgefällige Menschen mit unzureichender Bildung etabliert, die über den Duchschnitt hinaus keinerlei Motivation entwickeln können. Alles, was ihren Wissensstand übersteigt, ist ihnen suspekt – statt sich selbst herauszufordern, greifen sie auf den „kritischen Geist“ zurück.
Formen nachzuahmen ist immer einfach, das Verständnis des Zusammenhangs von Inhalt und Form ist dagegen immer schwierig und bedarf der Hingabe und des Kümmerns. Doch auch mit dem Bemühen um Verständnis kann Fortschritt und Erfolg ausbleiben. Die Gründe dafür liegen meist im psychologischen Bereich.
Fragt man einen traditionellen Meister nach seinem Sport, wird er darüber nur lächeln: „Karate ist doch kein Sport, sondern eine Methode, sich selbst zu vervollkommnen.“ Zu seinem Verständnis von Erfolg gehört nicht das punktuelle Gewinnen in einem Leistungsvergleich, sondern der Gewinn für das eigene Leben durch die beständige Arbeit am eigenen Selbst.
„Du sollst die Haltung eines Tigers haben und nicht die eines schlafenden Schweins.“, heißt es in der Philosophie des budō. Das schlafende Schwein kann nichts für seine Haltung, doch der budōka hat Verstand und ist für sich selbst verantwortlich.<br.> „Unglück geschieht immer durch Unachtsamkeit.“ sagte Meister Funakoshi. Es beginnt mit den unscheinbaren Situationen im Leben, in denen durchaus liebenswürdige Menschen gegenseitige Beziehungen verletzen, weil sie es versäumen, im richtigen Moment das Richtige zu tun. Es pflanzt sich fort, wenn Menschen liebgewonnene Freundschaften verlieren, weil sie sie durch Unaufmerksamkeit nur noch oberflächlich pflegen. Und es endet damit, dass ein ständig unkonzentrierter Mensch vor anderen wenig gilt, da man außer oberflächlichen Angelegenheiten mit ihm keine Bindungen eingehen kann.<br.>Der Mangel an Aufmerksamkeit ist kein natürlicher Zustand, sondern eine schlechte Angewohnheit. Ein budōka kann seine Aufmerksamkeit durch Übung immer verbessern. Wenn er aber sicher sein will, dass ihm alles misslingt, braucht er nur unaufmerksam zu sein.<br.>Gleiches gilt auch für die Disziplin im Leben. Wer sein Leben und seine persönliche Umgebung nicht aufräumt wird von seinen Mitmenschen nicht ernst genommen.
Wohl jenem, dem es vergönnt ist, sein Leben in Zufriedenheit zu leben und in Harmonie mit sich selbst zu verwirklichen. Zufriedenheit und Bescheidenheit sind Juwelen der Seele, die einem keineswegs in die Wiege gelegt werden, sondern das Resultat einer unermüdlichen Arbeit an sich selbst sind.<br.>In jedem von uns dominieren primär die natürlichen Überlebensmechanismen, die dem Menschenbild anfangs entgegen stehen: Egoismus, Misstrauen, Aggression, Neid, Vergeltung, Rache, u.a. – bei jedem Kind ist dies zu beobachten. Der spätere Mensch wird erst durch die Erziehung seiner Eltern, durch seine Bildung und durch die allgemeinen Verhaltenskonventionen gesellschaftsfähig. Er muss lernen und sich um seine Menschwerdung bemühen.<br.>Das Mensch-Sein wird ihm durchaus nicht geschenkt, denn geboren wird er – wie jedes andere Tier – als ein Wesen der Natur. Zwar besitzt er die Fähigkeit zur Erkenntnis und Selbsterkenntis, doch er muss zu seiner Menschwerdung die ihm gegebenen Möglichkeiten der Bildung, der kontemplativen Selbstschau und der selbstkritischen Betrachtung nutzen. Sein Wachsen zum Menschen und sein Streben nach Höherem hängen ausschließlich von Bildung und Selbsterkenntnis ab.<br.>Die in ihm angelegte Gier und Habgier ist ein Hindernis zum zukünftig evoluierten Menschenbild und ein sicheres Zeichen seines Untergangs. Es gilt diese Untugend zu überwinden und andere Fortschrittsantriebe zu schaffen. Statt „Wachsen“, „Steigern“ und „Konsumieren“ muss „Bewahren“, „Erhalten“ und „Besinnen“ entstehen.<br.>Das einseitige Streben in eine der beiden Richtungen vervollkommnet den Meschen nicht, sondern bewirkt mit dem persönlichen Älterwerden eine unüberwindbare Not in der Seele. Menschen, die nur eines der beiden verwirklichen, werden unglücklich, unzufrieden und einsam. Sie leben in einer Diskrepanz zwischen Sein und Schein.<br.>Zufrieden ist ein Mensch dann, wenn er seinem Leben einen Sinn gibt und durch eine Übung verwirklicht, was er tatsächlich ist. Unzufrieden bleibt er, wenn er sich durch sein Ich-Denken ständig dazu nötigt, den Gegensatz zwischen Sein und Schein zu verwirklichen.
Ein mondō ist keine Diskussionsrunde der Meinungen, sondern ein Lehrgespräch der Schüler (deshi) mit ihrem Lehrer (sensei). Zum Wesen eines mondō gehört, dass sich die Schüler in selbständiger Suche mit den Hintergründen und Themen der Kampfkünste und des Lebens im Allgemeinen auseinander gesetzt haben und in ihren Fragen eine Tendenz zum künftigen Verständnis von Zusammenhängen zu erkennen geben.<br.>Ein mondō ist auch ein Training. Der sensei erkennt, ob ein Schüler über seine Kunst informiert ist oder ob er nur Meinungen und leeres Gerede äußert. Wie er im Training seine Techniken verbessert, wird er im mondō seine Haltung verbessern.<br.>Leider wird dies oft missverstanden und vorlaute Schüler nutzen die Gelegenheit, ihr Ego durch kritische Bemerkungen aufzupolieren. Die Leidtragenden sind immer jene Schüler, die von ihrem sensei etwas lernen wollen. Die Gruppe, nicht der Lehrer, muss solche Entgleisungen unterbinden.<br.>Es gibt zwei Arten von Schülern: Jene, die alle Informationsmöglichkeiten über budō wahrnehmen und ihre Fragen auf einem entsprechend gehobenen Wissensstand aufbauen, und jene, die sich um nichts kümmern, stets uninformiert und unvorbereitet sind und ein mondō dazu benutzen, sich trotz ihrer Unwissenheit wichtig zu tun.
Die Gemeinschaft des budō ist kein gegebener Zustand, sondern ein Resultat jahrelanger Arbeit. Sie hängt sowohl vom Unterricht eines sensei als auch von der Bereitschaft zur Integrität ihrer Mitglieder ab.
„Ich möchte keine Einbindung in die Gemeinschaft, sondern nur dabei sein.“, sagen manche Schüler, die sich von der Lehre entfernt haben und eigenständig gelten wollen. Dies mag angehen, wenn sie ein Fitnessstudio besuchen und für ihren Monatsbeitrag eine Leistung erhalten. Auch in den Karate-Gemeinschaften gibt es beitragszahlende Mitglieder und Wegschüler. Zu welcher Gruppe der Einzelne gehört, entscheidet er selbst. Der Lehrer ist dazu da, aufzupassen, dass der Schüler nicht das Eine tut und das Andere beansprucht.<br.>Manche Schüler wollen wenig beitragen und viel erreichen. Diese Tendenz ist so alt wie die Menschheit und führt in allen dōjō zu Konflikten zwischen Lehrer und Schüler. Will ein Übender wirkliche Fortschritte machen, muss er sich selbst und die ganze Gruppe mitverantworten. Sein Fortschritt wird sich immer an dem Wert messen, den er in den Gesamtprozessen der Budō-Entwicklung hat, und nicht an dem Wert, der in seiner Selbsteinschätzung existiert. Jeder Mensch möchte etwas wert sein und gelten, doch budō bedeutet, Wert durch eine Wegübung zu bezeugen.<br.>Fortschritt auf dem Weg ist sichtbar im Verhalten. Der Weg der Kampfkunst enthält hierfür klare Maßstäbe. Fortschritt ist erreichbar durch Bemühen zum Wachsen, nicht aber im egoistischen Rechthaben. Wert zeigt sich immer im Verhältnis zu anderen, nie aber in der Einbildung.
Auf dem Übungs-Weg haben wir es mit Menschen zu tun, die in ihren Grundhaltungen sehr verschieden sind, denn jeder entwickelt sich entsprechend seinen inneren Anlagen zu seiner eigenen Persönlichkeit. Diese bleibt für den Lehrer unantastbar. Doch eine Grundbedingung für das Verständnis des Schülers vom Weg (dō) ist, dass er zu seiner Wegübung sowohl den Lehrer als auch den Mitschüler braucht.<br.>Die Budō-Gemeinschaft gibt es, weil einige durch ihre innere Haltung zusammenstehen und eine Art Zuhause gegründet haben – eine Anlaufstelle für persönliche Bedürfnisse in vielen menschlichen Bereichen. Häufig aber halten Schüler ihre Vorurteile für unantastbar und verstehen nicht, dass sie ein Betrachtungsproblem haben – sie integrieren sich weder in eine Lehrer-Schüler-Beziehung noch in eine Budō-Verbindung zu anderen – sie versprechen viel und halten wenig.<br.>Es gibt nichts von Menschen Geschaffenes, das von selbst entsteht und sich von selbst erhält. Alles bedarf der Arbeit und der Hingabe jener, die für ihre Ziele einstehen. Der Lehrer weiß, dass ein Gespräch über dieses Thema manchen Schülern stets unangenehm ist und zu Komplikationen führen kann. Wegübung aber bedeutet, dass der Schüler in den Spiegel sieht, den der Lehrer ihm vorhält. Vielen Schülern gefällt nicht, was sie darin sehen – sie denken, der Lehrer trübt ihr Bildnis.<br.>Doch es ist die Pflicht des Lehrers, die Wegbedingungen von einem Schüler des budōeinzufordern. Sicherlich nicht dort, wo ein Schüler den Weg offensichtlich ablehnt. Aber dort, wo der Schüler Zugeständnisse für seinem Fortschritt fordert, muss der Lehrer das Gleichgewicht herstellen.
Eine Budō-Gemeinschaft ist keine Kegelgruppe. Sie ist entsprechend ihren Inhalten auf menschliche Beziehungen aufgebaut und funktioniert ähnlich einer Familie. In ihr gibt es Wahrheit und Freundschaft, aber auch Lüge und Verrat. Wenn ein fortgeschrittenes Mitglied die Gruppe in Disharmonie verlässt, ist das nicht vergleichbar mit jemandem, der aus einem Fußballclub aussteigt. Er erteilt nämlich nicht den Kampfkünsten eine Absage, sondern er verrät seine Familie.<br.>Gute Budō-Gemeinschaften sind sensible Gefüge, deren wichtigste Charakteristik Integrität und Loyalität sind. Auf keine andere Weise sind Budō-Ideale verwirklichbar. Die integre Stärke der Gemeinschaft ist für den Einzelnen die Quelle seiner Kraft, seiner Orientierung – sie ist sein seelisches Zuhause. Doch dieses Zuhause lebt und gedeiht erst im Zusammenhalt, im Kampf um seine Werte, es will gepflegt und geachtet sein. Es entsteht und erhält sich nicht von selbst, sondern erst durch den Beitrag der Einzelnen.<br.>Nur wenn die Gemeinschaft zu einer klaren Haltung der Integrität und Loyalität fähig ist, kann sie ihre Identität wahren. Wie in keinem anderen Fall ist hier das Beispiel für das „Wir-Gefühl“ der Fortgeschrittenen gefragt, denn die Verletzung der Integrität und Loyalität durch Einzelne kann ihr Ende bedeuten. Wenn Fortgeschrittene ihr Zuhause nicht vor Angreifern schützen, werden sie es verlieren.<br.>Die Tendenz der modernen Budō-Gemeinschaften geht immer mehr zu einem oberflächlichen Miteinander über und verlässt den traditionellen Weg der menschlichen Bindungen. Dadurch können solche Situationen zwar umgangen werden, doch die Budō-Gemeinschaft wird zur Zweckgemeinschaft, die kein budō, sondern Sport verwirklicht. Wer nehmen will, muss beständig zum Geben bereit sein.
Es gibt keine menschliche Beziehung, die nicht auf Teilen beruht und es gibt keinen Menschen, der sich in einer Angelegenheit wohl fühlt, in der nicht geteilt wird. Doch es gibt viele Menschen, die überall dort, wo etwas geteilt wird, anwesend sind und stets ein bisschen mehr wollen als andere. Das geschieht nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch im budō. Doch hier muss dieses Prinzip vom Lehrer strikt unterbunden werden.<br.>Häufig sieht man Schülergruppen, die zusammen mit ihrem Lehrer zu Wochenendseminaren in den Budokan (honbu dōjō des BSK) kommen. Am Morgen stehen alle auf, die Lehrer gehen in die Küche und spülen das schmutzige Geschirr vom Vortag weg, während ihre Schüler völlig unmotiviert im Aufenthaltsraum sitzen und „keinen Bock“ auf ihre Pflichten haben. Das ist das Beispiel für eine kranke Budō-Gemeinschaft, in der kein Teilen herrscht. Nicht die Schüler handeln falsch, sondern die Lehrer. Sie nehmen hier ihren Lehrauftrag nicht wahr. Begründungen wie: „Das macht mir nichts aus.“ hört man immer wieder von den betroffenen Lehrern. Ihre Bereitschaft ehrt sie, aber im Hintergrund verletzen sie die Budō-Etikette und zerstören in ihren Schülern das Gefühl des Teilens von Verantwortungen.<br.>Natürlich steht am Ende jeder Lehrerbemühung um dieses Prinzip die Auseinandersetzung mit dem Schüler, denn warum sollten Menschen im budō anders sein als im Leben. Doch den Weg des budō zu gehen, bedeutet innere Haltungen zu reflektieren. Für den Wegübenden geht es darum, seine Aufmerksamkeit, seinen Respekt, seine Zugänglichkeit, seine Gegenseitigkeit und seine Anteilnahme zu teilen. Ein Lehrer muss darauf achten.
Gemeinsamkeit besteht aus der Bereitschaft des Hinhörens auf gegenseitige Bedürfnisse, aus dem Fühlen des Gebrauchtwerdens vom anderen. Es ist die Grundlage jeder Freundschaft und nicht zu verwechseln mit der Zweckbeziehung zweier Kumpel, die gemeinsam in die Disco gehen, um dort nicht alleine trinken zu müssen. Gemeinsamkeit ist ein tief empfundenes Bedürfnis im Menschen, aber gleichzeitig auch eine Verpflichtung.<br.>In einer Budō-Gemeinschaft wird dies sehr bedeutsam. Hier wird das Gefühl der Gemeinsamkeit zu einer Kraft, die alles zusammenhält. Jene Übende, die Gemeinsamkeit nur als Einbahnstraße zu ihnen hin empfinden, wissen immer zu begründen, warum sie nie geben, aber ständig nehmen. Doch ganz im Gegensatz zu ihnen gibt es Menschen, die beides im Gleichgewicht halten, obwohl sie objektiv betrachtet schlechtere Voraussetzungen für das Geben haben. Sie werden angenommen und verstanden, weil sie wahr sind.<br.> Gemeinsamkeit ist ein Gefühl des gegenseitigen Zueinanders, das sich nicht im bloßen Zusammensein, sondern im Vertrauen misst, das man füreinander aufbringt. Vertrauensunwürdige Menschen sind Weltmeister der Begründungen. Doch Gemeinsamkeit lebt nicht aus Begründungen. Begründungen sind Lügen, wenn sie in gemeinsamen Verbindungen nicht dazu führen, Vertrauen aufzubauen.
Alles ist Gleichgewicht, auch die menschliche Beziehung. Doch das natürliche Gleichgewicht kann durch ein selbstempfundenes sehr getrübt werden, wenn ein Mensch egoistisch und selbstbezogen ist. In allen Wegübungen geht es primär darum, dies zu erkennen und zu verbessern. Dafür gibt es den Lehrer und die Gruppenstruktur der Fortgeschrittenen, denn sie sind Maßstab und Resonanz für persönliches Verhalten.<br.>Diese Resonanz kann man lesen und seine Lehre daraus ziehen. Man kann auch unaufmerksam sein und die Resonanz nicht erkennen. Man kann auch denken, dass man von niemandem geliebt wird und im Selbstmitleid versinken. Man kann viele Wege gehen, doch was letztlich übrigbleibt, ist die Tatsache, dass man sich in gegenseitigen Abhängigkeiten zu anderen entweder bewährt oder versagt.<br.>Angefangen von menschlichen Freundschaften bis hin zu Gruppenstrukturen im budō gibt es keine andere Möglichkeit des Miteinanders, als dass jeder sich selbst um einen realistischen Ausgleich zwischen Geben und Nehmen kümmert. Natürlich hängt das von menschlichen Werdeprozessen ab, doch die Übung auf einem Weg bedeutet, sensibel zu werden und zu erkennen, wo man nimmt und zu geben vergisst. Die Übung auf dem Weg ist ein geistiger Prozess. Die Rolle des Lehrers ist es, aufzuzeigen, wo der Schüler im Ungleichgewicht steht, und die Aufgabe des Schülers ist es, darüber zu reflektieren. Wieder ist nicht das Resultat gefragt, sondern das Bemühen.<br.>Manchmal gibt es auch bei Lehrern die Tendenz, Anti-Budōmentalitäten ihrer Schüler mit dem Spruch durchgehen zu lassen „eigentlich ist das ein lieber Junge“. Das kann unbestritten wahr sein und gemessen an unseren gesellschaftlichen Gepflogenheiten, in denen jede Fehlhaltung auf Umfeld und Erziehung geschoben wird, auch richtig. Doch in einer Wegübung besteht die Pflicht des Lehrers darin, dem Schüler den Weg zu zeigen. Wegübung bedeutet, sich in Frage zu stellen.
Wenn es jemals zur Diskussion stehen sollte, dass wir das Gute im Menschen durch das in der Gesellschaft Richtige ersetzen sollen, ist budō gestorben. Lehrer dürfen deshalb den Weg des budō nicht verlassen und Nichthaltungen ihrer Schüler als Budō-Haltungen bestätigen. Sie müssen um den rechten Weg kämpfen und dürfen nicht das Versteckspiel auf dem falschen Weg zulassen. Sie dürfen sich vor dem Aufzeigen des Rechten nicht scheuen, weil sie sich vor dem Unverständnis ihrer Schüler fürchten.<br.>Sicher ist das nicht einfach. Wenn ein Lehrer das Vertrauen seiner Schüler nicht hat, kann er diesen Weg nicht gehen. Alles hängt miteinander zusammen, und es ist natürlich nicht damit getan, im dōjō Technik zu unterrichten. „Karate findet nicht nur im dōjō statt.“, sollte man sich immer wieder ins Gedächtnis rufen. Der klassische Lehrer des karate erzieht den reifen Menschen, der Trainer des karate bildet den Sportler aus.
Quelle: www.budopedia.de