Der jetzige Moment

Interview mit Eckhart Tolle

Eckhart Tolle, 56, war vor 26 Jahren ein zutiefst unglücklicher Mensch – bis er über Nacht das erfuhr, was er als „Bewusstseinsverwandlung“ bezeichnet. Daraus hat er seine Lehre entwickelt, die im Wesentlichen besagt: Spirituelles Erwachen bedeutet die Entscheidung, Ja zu sagen zu dem, was ist. Eckhart Tolle hat Anhänger in aller Welt, sein Buch „Jetzt! Die Kraft der Gegenwart“ erreichte Platz 1 auf der Bestsellerliste der New York Times, wurde in den USA 800 000 Mal verkauft und in 32 Sprachen übersetzt. Tolle wurde in Dortmund geboren, wo er bis zu seinem 13. Lebensjahr lebte. Nach der Scheidung seiner Eltern zog er zum Vater nach Spanien, später ging er nach England, wo er erst an einer Sprachenschule Deutsch und Spanisch unterrichtete. Anschließend studierte er in Cambridge Romanistik und blieb als Doktorand. Inzwischen lebt er mit seiner Lebensgefährtin in Vancouver/Kanada und Kalifornien.

JETZT

Herr Tolle, Sie sind, so hört und liest man, zu beneiden. Sie sind ein vollkommen glücklicher Mensch.

Ja, das bin ich.

Irgendwie beruhigend zu wissen, dass das bei Ihnen nicht immer so war.

Sogar ganz im Gegenteil.

Bis zu Ihrem 30. Lebensjahr wurden Sie von großer Angst verfolgt.

Schon während der Zeit des Romanistik-Studiums kamen hin und wieder Depressionen und Angstzustände. Trotzdem machte ich weiter und war sehr erfolgreich – weil ich von Angst getrieben war, Prüfungen nicht zu bestehen, zu versagen. Nach meinem Staatsexamen, als Doktorand in Cambridge, kam dann eine so schwere Depression, dass ich meinem Leben fast ein Ende gesetzt hätte. Ich habe das in meinem Vorwort von „Jetzt“ beschrieben.

Und eines Tages, oder besser gesagt plötzlich über Nacht, erfuhren Sie eine „Bewusstseinsverwandlung“. Anschließend saßen sie erst mal zwei Jahre auf Parkbänken und machten dort gar nichts, außer den Vögeln zuzuhören und Ihre Umgebung zu beobachten . . .

Da war dieser Satz, den ich in jener Nacht plötzlich im Kopf hatte: Ich kann mit mir selbst nicht weiterleben. Dann sah ich die Struktur des Satzes, die Unterscheidung oder Aufteilung in das Ich, also das Subjekt, und das Selbst. Ich fragte mich, wer dieses unglückliche Selbst war, mit dem mein Ich leben musste. Und dann erkannte ich, dass ich mich von meinem problembeladenen „Selbst“ trennen konnte, denn dieses war im Grunde nur etwas, das mein Verstand mir diktierte. Ich war plötzlich nicht mehr identifiziert mit meiner persönlichen, unglücklichen Geschichte. Und ganz plötzlich war ein großer innerer Friede da, ein Gefühlt der Gegenwärtigkeit. Das Jetzt. In die Praxis übersetzt, kommt man auf eine Formel: Man soll seine Aufmerksamkeit vollkommen auf das Jetzt richten, Vergangenheit und Zukunft existierten nur in unseren Gedanken; so wird man glücklich.
Die meisten Menschen tragen in sich eine Unzufriedenheit, ein Gefühl, nicht angekommen zu sein. Sie sind nie im gegenwärtigen Moment, sondern im Stress, in der Zukunft, sie sagen sich: Dieses und jenes will und muss ich noch erreichen, und dann wird alles gut. Aber dieser Moment kommt nie. Wie bei mir: Ich hatte mein Examen mit Eins abgeschlossen. Für eine Woche hatte ich dann keine Angst mehr, aber die Angst zu versagen, kam zurück und war stärker als zuvor.

Sie sind nun schon mehr als 25 Jahre ein „gegenwärtiger Mensch“, und Ihre Erkenntnisse haben Sie zum Bestsellerautor gemacht und zu einem spirituellen Lehrer – vollkommen unfreiwillig?

Es passierte organisch. Die Leute, neue oder alte Bekannte, kamen auf mich zu und stellten Fragen. Es kamen immer mehr, und nach einigen Jahren merkte ich, dass meine Haupttätigkeit darin bestand, Fragen zu beantworten. Und irgendwann nannte mich jemand einen spirituellen Lehrer. Mein Weg basierte nie auf einer bewussten Entscheidung, er entwickelte sich selbst über die Jahre. Es gibt Menschen, die haben mein Buch geschenkt bekommen, sie schauen rein und können damit nichts anfangen, legen es in ihr Bücherregal. Vielleicht nach zehn, vielleicht nach zwanzig Jahren nehmen sie es zufällig wieder in die Hand, lesen darin und etwas, was sie damals überhaupt nicht verstanden haben, bekommt eine Bedeutung für sie. Ich habe auch nicht den Drang, jemanden überzeugen zu wollen. Ich spreche nur zu Menschen, die die Wahrheit schon in sich erkannt haben.

Morgen werden Sie vor 800 Menschen sprechen, die jeder 40 Euro für eine Eintrittskarte ausgegeben und sich den ganzen Sonntagnachmittag frei gehalten haben. Was werden Sie denen erzählen?

Ich habe mich nicht vorbereitet. Ich lasse mich leiten vom jetzigen Moment. Was aus meinem Mund kommt, weiß ich nie, bis es da ist. Es wird auch bestimmt durch die Energie der Gruppe.

So ganz ohne roten Faden, kann das denn nicht manchmal auch ziemlich langweilig werden?

Ja. Manche gehen raus, weil es ihnen zu langweilig ist.

Oh je.

Aber das macht nichts.

Die, die bleiben – sehnen die sich nach einer neuen Religion?

Das glaube ich nicht. Sie sehnen sich nach einem anderen „inneren“ Zustand. Religionen sind wieder neue Gedankengebäude, die Menschen aber suchen eine innere Ruhe. Auf der ganzen Welt sehnt man sich danach – sogar dort, wo es viele Religionen gibt: In Indien beispielsweise ist mein Buch auch ein Bestseller, es ist in Hindi übersetzt.

Sie zitieren oft Jesus, Buddha . . . Wer oder was hat Ihre Lehre noch beeinflusst?

Hauptsächlich die Veränderung meines Bewusstseinszustandes. Ich gehöre keiner Religion an, aber ich sehe eine Gemeinsamkeit in all den Lehren. Bei allen liegt der Kern darin, in einem anderen Bewusstseinszustand zu leben.

Leben Sie gerade, während wir uns unterhalten, im Jetzt?

Ich habe gelernt, meinen „inneren Körper“ zu spüren. Während wir sprechen, spüre ich die Lebendigkeit meines Körpers in den Armen, Beinen – jede Zelle lebt. Auch Buddha legte großen Wert darauf, den „inneren Körper“ beziehungsweise den eigenen Atem zu spüren. Atem und innerer Körper sind miteinander verwandt. Man muss vollkommen gegenwärtig sein, um den Atem in sich beobachten zu können. Buddha hat nicht gesagt, „Lebe im Jetzt“, aber „Beobachte deinen Atem!“ – und das zwingt dich, vollkommen im „Jetzt“ zu leben.

Was hat man ganz unmittelbar davon?

Solch einfache Dinge, wie sich beim Ein- und Ausatmen zu beobachten, bringen eine Tiefe ins Leben.

Und wie geht das, seinen inneren Körper zu spüren?

Einigen Menschen hilft Yoga, Tai Chi, Qi Gong. Oder eben sich seines Atems bewusst zu werden. Es ist wichtig, in sich eine Dimension zu finden, die nicht abhängig ist von dem Auf und Ab des Lebens. Man kann es – muss es sogar – trainieren: zurücktreten, sich des jetzigen Moments bewusst zu werden, ihm alle Aufmerksamkeit zu widmen. Das Denken ausschalten.

Spielt die Zeit oder Planung für Sie persönlich denn gar keine Rolle? Ich sehe, Sie tragen eine Uhr.

Im praktischen Leben muss man natürlich Pläne machen. Zum Beispiel mussten wir eine Zeit ausmachen, damit wir dieses Interview führen können. Menschen planen einen Urlaub, eine Reise – aber das ist okay. Ich nenne sie die „praktische Zukunft“. Stressauslösend ist die „psychologische Zukunft“: Wir glauben unbewusst, der nächste Moment sei wichtiger als der jetzige. Die Zukunft kann man nur erfahren im gegenwärtigen Moment. Aber wir haben verlernt, uns vollkommen dem Leben zu öffnen, denn wir leben so, als sei der jetzige Moment ein Hindernis, das wir überwinden müssen, um zum nächsten Moment zu gelangen.

Und wie lernen wir das Jetzt-Gefühl?

Man muss seine ganze Aufmerksamkeit auf den jetzigen Moment legen, in dem sich die Fülle des Lebens offenbart: Hören Sie gerade den Vogel durch das geöffnete Fenster zwitschern? Das Windspiel klimpern? Freuen Sie sich daran. Das ist das „Jetzt“. Wir müssen wieder ein Gegenwartsbewusstsein lernen. Die Dimension der absoluten Aufmerksamkeit. Kreative Menschen erleben so etwas, den Moment, in dem plötzlich eine Einsicht kommt. Oder Sportler, die zum Beispiel während des Laufens einen Zustand erreichen können, in dem sie an gar nichts mehr denken, nur noch fühlen. Im Amerikanischen nennt man diesen Zustand „The Zone“.

Ist nicht jemand, der total in sich ruht, inkompatibel mit seiner Umwelt?

Im Gegenteil, nur so können gesunde Beziehungen zwischen Menschen entstehen. Dass ich in mir ruhe, bedeutet nicht, dass ich mich nicht mehr für andere Menschen interessiere. Ich benutze sie nur nicht mehr für meine Zwecke. Dadurch verbessern sich menschliche Beziehungen sehr stark, denn ich widme den anderen meine Aufmerksamkeit, ohne etwas zu wollen. Ich brauche den anderen nicht, um mich zu finden. Und Liebe zwischen Menschen kann erst entstehen, wenn ich den anderen nicht mehr für meine Zwecke benutze.

Wir sind gewohnt, Pläne zu machen, Ziele zu haben. Wir wollen eine Familie gründen, den richtigen Mann finden, den Beruf, der uns erfüllt. Ist denn das nun alles Quatsch?

Es ist gut, Pläne zu machen, Ziele zu haben. Aber nicht als Ersatz dafür, die Fülle des Lebens im Jetzt zu erfahren. Ein Beispiel: Wenn jemand eine Reise macht, hat das zwei Aspekte. Einmal das Ziel, an dem er ankommen will. Er weiß also, in welche Richtung er gehen muss. Aber wenn seine ganze Aufmerksamkeit auf das Ziel gerichtet ist und nicht auf die Reise, verpasst er die schöne Umgebung, neue Menschen, denen er begegnet . . . Die Aufmerksamkeit auf den Schritt zu richten, den er gerade macht, ist genauso wichtig wie das Ankommen. Außerdem: Wenn man den Schritt nicht genießen kann, wird man auch das Ankommen nicht genießen können, da man so nie lernt, präsent zu sein.

Bedeutet das nicht auch, dass wir ein größeres Vertrauen in den Lauf der Dinge haben sollten?

Ja, ein Vertrauen in das Leben selbst, wie die Natur: Sie vertraut dem Leben auch, wird vom Leben getragen. Man spart außerdem viel Kraft, wenn man sich dem Leben hingibt und nicht immer versucht, es zu lenken oder sich dagegen zu stemmen.

Geben Sie doch bitte mal ein Beispiel, wie ich das „Gegenwärtigsein“ in meinen Alltag integrieren könnte.

Zum Beispiel, wenn Sie im Auto sitzen und vor einer roten Ampel warten müssen: In diesem Moment können Sie sich auf sich selbst besinnen, auf Ihren Atem, auf das Leben in Ihnen. Und wenn Sie dann im Büro angekommen sind und beispielsweise vor dem Fahrstuhl warten, können Sie das wiederholen.

Was, wenn ich mich dabei zu sehr entspanne? Morgen zum Beispiel ist die Deadline für dieses Interview.

Wenn Sie nur an die Deadline denken, können Sie mir nicht zuhören. Aber ohne zuzuhören können Sie Ihren Artikel nicht schreiben. Gut, Sie können dieses Tonband abtippen. Aber dann werden Ihnen die Worte fremd vorkommen, und Sie machen sich doppelte Arbeit. Wenn man am Computer sitzt, kann man den Blick kurz auf etwas Schönes lenken, wie die Blume in der Vase – und die Lebendigkeit in sich spüren. Zehn Sekunden reichen. Auch wenn die Gedanken sagen: Nein, ich habe keine Zeit. Sie werden merken, dass Sie Ihre Arbeit dann sogar noch besser machen können. Aber jeder muss es für sich selbst ausprobieren. Es geht nicht von heute auf morgen, es ist ein Prozess der Umwandlung.

Danken Sie jemandem für Ihre Erkenntnis?

In mir ist ein starkes Gefühl der Dankbarkeit, aber es ist nicht an jemanden gerichtet. Man könnte es die Dankbarkeit dem Leben selbst gegenüber nennen. Ich glaube an das Göttliche, aber das Göttliche nicht beispielsweise als eine Figur, die Kontrolle ausübt. Das innenwohnende Sein in allem, was lebt – das ist das Göttliche.

Darf ich Sie um einen abschließenden Tipp bitten?

Sicher.

Wie kann ich heute noch dem Glück ein Stück näher kommen?

Fragen Sie sich: Wie ist meine Beziehung zum jetzigen Moment – ist er mein Freund oder mein Feind? Allein das könnte schon Ihr Leben verändern.

www.eckharttolle.de