Denke nicht ans Gewinnen, doch denke darüber nach, wie du nicht verlierst

Jede kata ist ein in sich abgeschlossener Kampfstil. Manche von ihnen führen über ein Jahrtausend in eine Urform zurück, die sich durch die Zeiten in ihrem Grundkonzept erhalten und durch die Beiträge tausender von Kampfkunstexperten verbessert hat. Der Meister brachte sie dem Schüler bei und dieser wiederum seinem Schüler. Jeder dieser Kampfkunstexperten hatte seine eigene Vorstellung vom Kämpfen und verschlüsselte sie in der kata. Was in der Realität untauglich war, wurde nicht überliefert, denn es ging nicht um Formen, sondern ums Überleben. Die Zeit wirkte wie ein Sieb und brachte nur vielfach bewährte Experimente in unsere Gegenwart, die aber als Formen verschlüsselt sind und uns den Zugang zu ihrer Bedeutung nur mit Bedingungen an unsere innere Haltung erlauben.

Der hauptsächliche Grund, warum dem heutigen Schüler das Verständnis der Kata-Methode so schwerfällt, ist eine gesellschaftsbedingte innere Ablehnung gegenüber einem zum Dienen auffordernden Ideal, ohne das kein einziger Schritt auf dem Weg () möglich ist. Das Denken der meisten Schüler ist in einer konsumorientierten Oberflächlichkeit gefangen, in der sie der reinen Technik und sich selbst eine zu große Bedeutung beimessen und nicht bereit sind, ihre innere Haltung zu betrachten. Daraus entsteht auch die aus dem Blickpunkt der Tradition gesehen falsche Kampfkunstmentalität. In den modernen dōjō werden keine Budō-Schüler, sondern Wettkämpfer ausgebildet, die lernen, dass ein Punktesieg über einen Gegner ein großes Ziel ist. Meister Funakoshi sagt in einem seiner Leitsätze: „Denke nicht darüber nach, wie du siegst, sondern konzentriere dich darauf, dass du nicht verlierst.“ Dies mag für den Wettkämpfer dasselbe sein, doch für einen Budō-Schüler ist es der Leitgedanke des Kämpfens schlechthin. In einem echten Kampf gibt es keinen Sieger auf dem zweiten Platz. Das höchste Prinzip des Kämpfens dort ist das Überleben, nicht das Kämpfen ums Gewinnen. Im Budō-Prinzip ist die Überwindung der menschlichen Tendenz zum Kämpfen, durch Korrekturen in der inneren Haltung (karate ni sente nashi) enthalten, also das Gegenteil von jener Tendenz, die in den Wettbewerbsrichtungen angestrebt wird. Die letztendliche Fähigkeit zum Kampf ist in den beiden Richtungen auf sehr verschiedenen inneren Haltungen aufgebaut.

Jenseits aller Spekulationen, ob die menschliche Tendenz zum Kämpfen durch Ausreizen oder Überwinden gezügelt werden muss (neuerdings behaupten einige, der moderne Mensch müsse, im Gegensatz zu bisher, seine Agressionen abreagieren und nicht überwinden), gibt es in der Wirklichkeit keine Sieger-Rangordnungen. Weder im Krieg zwischen Völkern noch in der persönlichen Selbstverteidigung ist dies der Fall. Nun lehren die traditionellen Kampfkünste aber keine Methoden, mit denen man jemanden besiegt, sondern sie lehren in erster Linie die Alternative zum Kämpfen und in zweiter Linie die Mittel, sich zu verteidigen, wenn es keinen anderen Ausweg mehr gibt. Dies ist etwas vollkommen anderes als das, was man in manchen dōjō heute sieht und hört. Wer die Kampfkünste dazu missbraucht, zu lehren, wie man in Auseinandersetzungen Erster wird, statt zu unterrichten, wie man seinen Geist diszipliniert, um Auseinandersetzungen zu vermeiden, ist eine Gefahr für den Frieden und sollte als Budō-Lehrer ignoriert werden.

Artikel aus: Lexikon der Kampfkünste von Werner Lind