Hart und Weich, Spannung und Entspannung, langsam und schnell – alles in Verbindung mit der richtigen Atmung

In Japan gibt es den Begriff hara-gei, den man mit „Bauchspiel“ übersetzt. Hara-gei bezeichnet einen stillen Dialog zwischen zwei darin geübten Menschen und ist etwa seit dem 13.Jh. gebräuchlich. Er beruht darauf, eine gegenseitige Verständigung auf der Basis der Intuition zu erlangen. Hara-gei war ein wichtiges Element der alten Samurai-Kultur und ist im budō ein wichtiger Aspekt des Dōjō-Verhaltens, das auf einer intuitiven Verständigung zwischen Lehrer und Schüler beruht.

Die Entwicklung und die Lenkung von ki (Qi) hängt ausschließlich von der Übung des Hara ab, die keinesfalls nur einen körperlichen Aspekt hat. Hara wird innerhalb der Kampfkünste zum zentralen Begriff, ohne den jede Art der Übung ihren eigentlichen Sinn verliert. Meister Funakoshis Grundsätze zum Üben der kata (1. die Art der Kraftentfaltung, 2. das Verhältnis zwischen Spannung und Entspannung, 3. langsam und schnell) sind auf der Philosophie des hara begründet, die sich in der konkreten Übung der Kampfkünste physisch in drei Aspekten verdeutlichen: Haltung, Spannung/Entspannung, Atmung. Die Übung der Techniken im karate-dō führt dazu, dass der Mensch unter diesen drei Aspekten ein harmonisches Verhältnis zu sich selbst und zur Welt verwirklicht, das man allgemein als hara bezeichnet.

Aus diesem Grund betrachtet man den körperlichen Ausdruck des Übenden von hara (Haltung, Spannung, Atmung) als den wichtigsten Aspekt allen Übens in den Kampfkünsten. Keine Bewegung, keine Technik darf ohne die Beachtung dieser Prinzipien ausgeführt werden. Die körperliche Form ist Ausdruck einer sich selbst unbewußten inneren Haltung, die den Menschen nicht nur physisch, sondern auch in jeder alltäglichen Handlung lenkt. Durch das Zurechtrücken der körperlichen Schwerpunktsetzung entsteht ein Einfluss nach innen, durch den der Mensch sich seiner psychischen Barrieren und Grenzen bewusst werden kann. Die Philosophie des dō wurzelt hiermit direkt in der Übung des hara und schöpft ihre Kraft ausschließlich aus dieser Überlegung. „Aus der leibhaftigen Erscheinung des Menschen spricht uns jeweils ein Dreifaches an“. (Auszug aus Hara, die Erdmitte des Menschen von Karlfried Graf Dürckheim):

Haltung – Ein bestimmter Bezug zu Himmel und Erde: Der Mensch kann nicht fliegen, noch muss er kriechen. Er ist weder Vogel noch Wurm, sondern er bewegt sich als Mensch aufrecht, d.h. zum Himmel erhoben auf der Erde. Ob der Mensch in bezug auf sein Verhältnis zu Himmel und Erde in Ordnung ist, wird vor allem an seiner „Haltung“ sichtbar, d.h. an der Art und Weise, wie er die ihm als Menschen im Unterschied zum Tier zugedachte Vertikale darlebt. Ist er in der rechten Weise „aufrecht“, dann verbindet er in seiner Haltung Himmel und Erde. Seine Gebundenheit nach unten bringt sein Aufgerichtetsein nicht in Gefahr, und in seinem Aufgerichtetsein liegt keine Verneinung seiner Gebundenheit an die Erde. Ja, er erscheint in einer Weise in Kontakt mit dem Unten, die seiner Aufwärtsbewegung nicht nur nicht widerspricht, sondern sie gleichsam mit hervorbringt und sichert. Zugleich hat seine Strebung nach oben nicht den Charakter einer ihn von der Erde weghebenden Bewegung, sondern einer die Wurzelkraft (der Erde) bezeugenden Aufwärtsbewegung. Die mit Bezug auf das Verhältnis zu Himmel und Erde „rechte“ Erscheinung bringt unverstellt und harmonisch zum Ausdruck, dass der Mensch zugleich in der Erde gegründet und auf den Himmel bezogen ist, von der Erde getragen und vom Himmel gezogen wird, an die Erde gebunden ist und zugleich himmelwärts strebt.

Atmung – Ein bestimmter Zusammenhang mit der Welt: Der Mensch steht in einem polaren Verhältnis zur Welt, darin er einerseits sich selbst wahrt und andererseits mit ihr verbunden und in lebendigem Austausch ist. Ist die lebendige Gestalt im rechten Verhältnis des Menschen zur Welt, zu Mensch, Ding und Natur gemäß, so besagt sie: Er ist ihr gegenüber sowohl geschlossen wie geöffnet, zugleich klar konturiert und im durchlässigen Kontakt, von der Welt abgesetzt und zugleich mit ihr verbunden, der Welt gegenüber zugleich „verhalten“ und aufgeschlossen. Als in rechter Weise lebendige Gestalt atmet er die Welt gleichsam in sich ein und atmet sich in sie aus.

Spannung/Entspannung – Ein bestimmtes Verhältnis zu sich selbst: Immer steht er in seiner jeweilig gewordenen Form in einem bestimmten Verhältnis zu dem Leben, das in ihm selbst auf Bekundung, Entfaltung und Einswerdung drängt. Spannung/Entspannung. Bekundet die lebendige Gestalt das rechte Verhältnis des Menschen zu sich selbst, dann erscheint er in ihr sowohl gehalten als gelassen, sowohl in einer sich bewahrenden Form als auch beseelt von lebendiger Dynamik und im rechten Verhältnis von „gespannt“ und „gelöst“.

Artikel aus: Lexikon der Kampfkünste von Werner Lind