Dieser Leitsatz wurde von Meister Funakoshi im Karate interpretiert, stammt jedoch ursprünglich aus dem japanischen Bushido, wo er besagte, dass ein Samurai in jeder Situation einen beherrschten Geist bewahren muss und das Schwert nicht wegen jeder Provokation oder Kleinigkeit ziehen darf. Diese Regel soll den Übenden an die Bedeutung des ruhigen und kontrollierten Geistes erinnern, durch den sich in den Kampfkünsten der Fortgeschrittene vom Anfänger unterscheidet. Mit Karate wurde die Bedeutung erweitert. Sie passte sich der stärker ausgeprägten philosophischen Tendenz des Budo an und drückt darin den sehnlichen Wunsch des in den Kampfkünsten gereiften Menschen nach Frieden und Harmonie aus. In den Kata des Karate wird dies symbolisch verdeutlicht, indem jede erste und letzte Technik eine Abwehr ist. „Karate ni sente nashi“ wird in neuerer Zeit häufig als moderner Dojo-Spruch verwendet, jedoch meist unzulänglich erläutert. Im traditionellen Sinn besitzt diese grundlegende Kampfkunstphilosophie zwei in sich ergänzende Elemente. Zum ersten zeigen sie an, dass die Kampfkünste zur Selbstverteidigung und nicht zum Wettbewerb gedacht sind, in dem zu viel Gewicht auf die Übung von Angriffstechniken gelegt wird. Sensei Funakoshi selbst erlaubte nie die Übung der Angriffstechniken als Bestandteil des Trainings. Die traditionellen Meister sehen in den dezidierten Angriffsübungen der Wettbewerbsvarianten eine Verletzung dieses Prinzips, dass sie im Übenden falsche innere Haltungen hervorrufen, die dem Geist des Budo widersprechen.
Die erste Bedeutung des Leitsatzes ist mit der Budo Philosophie des Sen no Sen und Go no Sen verbunden. Das Ergreifen der Initiative, egal in welcher Selbstverteidigungssituation, ist lebensnotwendig. „Es gibt keinen ersten Angriff“ meint, dass ein Kampfkunstexperte in der Selbstverteidigung nie zuerst schlägt und nie oh ne Kontrolle schlägt. Dass Maß einer Selbstverteidigungshandlung wird vom Geist bestimmt, und deshalb hängt die Verwirklichung von „Karate ni sente nashi“ eng mit einem erkenntnis- und kontrollfähigen Geist zusammen (Karate wag i no tasuke).
Außerdem drückt der Satz die grundsätzliche friedvolle Haltung des in den Kampfkünsten gereiften Menschen aus, der Bescheidenheit und harmonisches Zusammenleben über alles stellt. Die Praktiken des Wettbewerbs, Siege nach Punkten zu erringen und auf diese Weise den Besten zu ermitteln, werden als Verletzung dieses Prinzips betrachtet, da sie eines reifen Geistes unwürdig sind und für einen unreifen Geist keinen erzieherischen Wert haben. Karate unter diesem Zeichen zu unterrichten, gilt auch heute auf Okinawa als Verkehrung seines Sinnes und als Verletzung seiner Etikette.
Die zweite Bedeutung bezieht sich nicht nur auf die Kampfkünste, sondern auf die allgemeine Haltung des Menschen gegenüber dem Leben. Das friedliche Zusammenleben der Menschen ist nach wie vor ein Problem, dessen Bewältigung weit mehr in der Reife und dem Willen zum Frieden jedes einzelnen liegt als in der Suche nach politischen Auswegen. Häufig setzen Menschen Frieden als von ihnen selbst beeinflussbares Ereignis voraus, doch in Wirklichkeit ist er ein Resultat ihres Denkens und Handelns im Alltag. „Karate ni sente nashi“ verweist darauf und mahnt den Menschen zur Selbstbesinnung und zu friedlichen Alternativen. Geistiges Wesen zu sein bedeutet, diese Alternativen zu suchen und zu finden, denn sie bestimmen die Zukunft.
Dazu der okinawanische Großmeister Shoshin Nagamine:
„Karat ist eine Kampfkunst, die zum Zwecke der Selbstverteidigung vor drohender ungesetzlicher Gewalt entwickelt wurde, wobei der hart trainierte Körper als Waffe verwendet wird“.
Karate-do jedoch meint ein Karate-Leben oder einen Lebensweg, der auf Karate beruht, indem man sich selbst besiegt und so zum Seiger wird, ohne im strengen Sinn von der Kunst überhaupt Gebrauch zu machen. Man kann also sagen, dass Karate darauf abzielt, in einer lebenslangen Übung den ganzen Menschen entstehen zu lassen.“
Oder der japanische Großmeister Shigeru Egami:
„Wer dem Weg des wahren Karate folgen will, darf nicht nur danach streben, neben seinem Gegner zu überleben, sondern er muss sich bemühen, eins mit ihm zu werden… Niemals zu verlieren bedeutet nicht automatisch, immer zu gewinnen. Wenn man dies wirklich verstanden hat, ist man über die Anfängerstufe hinaus.“
Der Grund, warum der Wettkampf als Verletzung dieses Prinzips gilt, ist sein dem Budo entgegenwirkender Sinn. Im Budo übt der Mensch, um sich selbst zu besiegen, im Wettkampf übt er, um andere zu besiegen. Die Ziele des Wettkampfs betonen eben jene Formen der Selbstverwirklichung im Streben, die durch die Übung des Budo unter Kontrolle gebracht werden sollen, weil sie in ihren verschiedenen Facetten als die Ursache des Ungleichgewichts gelten, das vom unreifen menschlichen Geist angerichtet wird. Meister Funakoshi spricht diesbezüglich vom „Mann des Tao“, der umso mehr Ehre oder Verdienst erlangt, je weniger wichtig er sich selber nimmt:
„Wenn ein Mann des Tao den ersten DAN erhält, wird er voller Dankbarkeit seinen Kopf beugen. Wenn er den zweiten DAN erhält, wird er seinen Kopf und seine Schultern beugen. Wenn er den dritten DAN erhält, wird er sich tief bis zur Hüfte beugen und still nach Hause gehen, damit ihn keiner sieht. Wenn der kleine Mann seinen ersten DAN erhält, wird er nach Hause laufen und es jedermann erzählen. Erhält er seinen zweiten DAN, wird er auf die Dächer klettern und es jedem zurufen. Erhält er seinen dritten DAN, wird er in sein Auto springen und hupend durch die Stadt fahren.“ In diesem Beispiel liegt die gesamte Erklärung des „Karate ni sente nashi.“
Artikel aus: Lexikon der Kampfkünste von Werner Lind