„Karate beginnt mit Respekt und endet mit Respekt“, sagte Meister Funakoshi Gichin und sprach damit ein bedeutendes Prinzip des budō an. Symbolisch für diesen Respekt steht die Verbeugung (rei) am Anfang und am Ende jeder kata. Der Gruß (rei) und die Bereitschaftsstellung (yōi) haben jedoch nicht nur eine symbolische, sondern auch eine praktische Bedeutung.
Die Bedeutung des Grußes besteht in dem philosophischen Prinzip, dass der Mensch, ehe er sich den weltlichen Dingen widmet, sich etwas zuwenden muss, das er als größer erachtet als sein eigenes Ich. Im budō ist es das Ideal. Sich respektvoll vor ihm zu verbeugen und das eigene Ich unterzuordnen, erzieht die für die Kampfkünste wichtige rechte Haltung vor dem Leben.
In allen traditionellen Schulen des budō wird deshalb die Etikette des Grußes sehr ernst genommen. Erst durch sie wird das dōjō zu einem Ort, an dem es einem Übenden möglich ist, sich zu vervollkommnen. Die Übung der Kampfkünste ohne Etikette würde das Tor zur Gewalt öffnen und die Atmosphäre der Ruhe und Selbstbesinnung zerstören.
Rei bedeutet nicht einfach nur den Kopf zu beugen. Der Gruß wird von einer inneren Haltung der Bescheidenheit und des grundlegenden Respektes, den ein Mensch dem anderen schuldet, begleitet. Deshalb grüßt man immer mit Aufmerksamkeit, Achtung und Würde. Die stetige Übung des Grußes wirkt auf die Haltung und stimmt den Menschen in seiner Gesamtverfassung auf die rechte Handlungsweise ein. Ein schlechter Gruß ist eine schlechte Übung, eine Unachtsamkeit gegenüber sich selbst und gegenüber anderen.
Die Übung des rechten Grußes formt die Fähigkeit, innere Stärke durch die Überwindung des Ich zu entwickeln. Der grundlegende verinnerlichte Respekt ist die Quelle jener Kraft, die dem reifen Menschen ein angepasstes Verhalten ermöglicht. Der echte Schüler macht diesen Respekt zur Übung, indem er jede Gelegenheit wahrnimmt, seine Achtung zu bezeugen. Der falsche Schüler stellt selbst die achtungswürdigsten Dinge unter sich und entehrt sie durch maßlose Überheblichkeit. Diese Haltung dient dem Ich, aber sie macht ihn abhängig und schwach.
Die Bereitschaftsstellung (yōi) ist eng mit dem Gruß (rei) verbunden und wird immer in Begleitung zum Gruß ausgeführt. Sie gewährleistet die Einstellung auf die den Gruß begleitende innere Haltung, indem sie jede Aktivität unterbricht und die Harmonie zwischen körperlicher Bereitschaft (mi-gamae) und geistiger Bereitschaft (ki-gamae) bewirkt. Daher sollte jede Übung mit der Bereitschaftsstellung beginnen. Manche kata haben noch eine zweite Bereitschaftsstellung, die eine psychische Eigenschaft, eine Tugend oder einen Charakterzug symbolisiert, den man während der körperlichen Ausführung durch Autosuggestion in die innere Haltung projezieren kann. Die M-dra des esoterischen Buddhismus sind auf ähnlichen Grundlagen aufgebaut und haben zu vielen der heutigen Kamae-Kata eine Verbindung. Durch ihre Übung können psychische Grundbeschaffenheiten durch Suggestionen beeinflusst und verändert werden.
In den natürlichen Anlagen der menschlichen Beschaffenheit gibt es Parallelen zwischen der inneren Haltung und der äußeren Form. Manche von ihnen sind auf so intensive Weise miteinander verbunden, dass es überhaupt nicht möglich ist, einem inneren Zustand körperlich zu widersprechen oder umgekehrt. Beim Erschrecken zieht man die Schultern hoch, als Zeichen der Demut beugt man den Kopf, usw. In den Kampfkünsten gibt es viele dieser Bewegungen oder Haltungen, die durch hohe Wiederholfrequenzen nach und nach die innere Haltung korrigieren. Das rei steht für Demut, das yōi steht für Aufmerksamkeit. Eine kata ist jenseits ihrer Techniken eine Kombination von Gesten und Verhaltensweisen, die innere Zustände suggerieren. Diese gipfeln beständig in den kamae der kata, die durch ihre langsame Ausführung eine Bewußtwerdung dessen, was sie bedeuten, erlauben. Man kann sich bewusst machen, dass eine bestimmte Haltung innere und äußere Stärke bewirkt, wie dies z.B. auf traditionelle Weise dem M-so-gamae aus der sōchin zugesprochen wird. Durch langjährige Übung wird sich dies in der inneren Haltung bemerkbar machen.
Die Kampfkünste sind nicht der Ursprung solcher Praktiken, sondern bestenfalls eine Methode, solche Suggestionen positiv zu lenken. Ähnliches gibt es seit Menschengedenken in allen Lebensbereichen. Heute übt sich der Manager in der „Ich-bin-der-Größte“-Haltung und so mancher Beamte in der „Es-gibt-kein-Denken“-Haltung, und wie wirkungsvoll diese Übungen sind, kann man im alltäglichen Leben feststellen. Die alten samurai haben mit ähnlichen Methoden sogar die Furcht vor dem Tod überwunden.
Ähnliches geschieht in den kata durch die Übung der kamae. Sie können dann, wenn ihrer körperlichen Symbolik eine psychische Eigenschaft zugesprochen wird (z.B. jiai-gamae steht für Harmonie), durch langjährige Übung innere Grundbeschaffenheiten verändern. Durch Imagination und Gewohnheit kann auf diese Weise z.B. Mut oder Großzügigkeit antrainiert werden. Die weiter oben beschriebenen Kamaekata erhalten ihre Eigenschaften ausschließlich auf diese Weise.
Dies ist der esoterische Bereich des karate, der aber nicht isoliert, sondern nur in Verbindung mit der Wegübung und all ihren Bedingungen an den Übenden nachvollzogen werden kann. Dann wird die kata zur Methode, den eigenen Geist zu erziehen. In diesem Aspekt und nicht in der bloßen Form begründen sich Aussagen wie, „die bassai entwickelt Mut und Willenskraft“ oder „die jion entwickelt Harmonie und Frieden“. Das gedankenlose Üben der Techniken allein entwickelt natürlich überhaupt nichts.
Eine solche Übung ist ohne die Kontrolle eines Meisters und ohne dōjō nicht ratsam, denn es müssen die Grundbedingungen des budō beachtet werden, die nur auf der Stufe des Meisters erkennbar sind. Der unkontrollierte Eingriff in die Psyche ist gefährlich und hat bereits durch Scharlatanerie im Bereich des Yoga und des esoterischen Buddhismus verheerende Schäden angerichtet. Jeder, der sich von solchen Praktiken Hilfe verspricht, sollte wissen, dass es keine esoterischen Wunder gibt, sondern dass die einzige Methode dahin ein Weg der Selbstdisziplin und Selbstüberwindung ist. Es gibt keine Hilfe von Außen, wenn die innere Haltung schwach bleibt.
Artikel aus: Lexikon der Kampfkünste von Werner Lind