Karate üben, heisst ein Leben lang zu üben, darin gibt es keine Grenze

Jeder Mensch hat seine körperliche Grenze, und diese wird etwa im mittleren Alter erreicht. In der Übung des Budo gibt es jedoch keine Grenzen, wenn man die innere Vervollkommnung mit in Betracht zieht. Diese Art der Vervollkommnung war der gravierendste Unterschied zwischen dem kriegerischen Bujutsu und dem Budo und ist auch heute der Unterschied zwischen Budo und Sport. Zentral für die Übung im Budo wurde der Weg (Do), der aus der kriegerischen Technik (gutsu) ein Mittel der Selbstperfektion machte. Dadurch konnten die Grenzen aufgehoben werden, denn selbst wenn der Körper alt und schwach ist, läßt sich die Haltung weiter vervollkommnen.
In allen traditionellen Künsten des Budo wird die körperliche Meisterschaft in der Technik (Shosa) nicht sehr hoch bewertet. Es ist nichts Außergewöhnliches daran, allein die Techniken bis zur Leistungsgrenze zu perfektionieren. Die Meisterschaft in einer Kunst des Budo vollzieht sich in einer vollkommen anderen Dimension. Sie bedarf einer langen geistigen Reifezeit unter einem Meister des Weges. Diese Zeit ist nötig, um zu erkennen, was „ein Leben lang keine Grenzen“ bedeutet. Das alleinige Beherrschen guter Techniken ist das Ziel des Sportes, doch nicht das des Budo.
Im Budo nennt man eine vollendete Technik „Ikken-hissatsu“. In der wörtlichen Übersetzung bedeutet das: „mit einem Schlag töten“. Doch in der philosophischen Interpretation der Budo-Künste ist dies ein Schlüsselbegriff für das Verständnis dessen, was ein Meister als ungetrübte, wahre Handlung ansieht. Als solches bezeichnet Ikken-hissatsu nicht das Töten selbst, sondern die absolute Fähigkeit zur reinen Handlung, die der rechten Haltung entspringt. Ikken-hissatsu ist ein uner- reichbares Ideal und meint die Fähigkeit zum Absoluten, die Überwindung der letzten Grenze. In der Übung des Budo, die nichts anderes als eine Konfrontation mit den unzähligen inneren und äußeren Grenzen ist, besteht die Möglichkeit, sich diesem Ideal mit der Zeit zu nähern. Ob ein Übender dies tut oder ob er nur Techniken perfektioniert, liegt an ihm selbst. Ikken-hissatsu, das in der Praxis des Kämpfens nur die eine Seite des Handlungspotentials darstellt (Wirkung), schließt immer Sun-dome (Achtung) mit ein; nur so ist es möglich, maximale Wirksamkeit der Technik zu üben und deren destruktive Wirkung durch Kontrolle aufzuheben. Sun-dome bedeutet, dass die Technik zwei Zentimeter vor dem Ziel abgestoppt wird. In der philosophischen Betrachtung bedeuten Ikken-his- satsu und Sun-dome, daß ein Mensch die Fähigkeit zur absoluten Wirkung durch die Achtung vor dem Leben ausbalanciert. Beide zusammen bilden die doppelte Zielrichtung menschlicher Lebensbestimmung. In der Gesamtverfassung des Menschen sind Ikken-hissatsu und Sun-dome die beiden Pole seines Wirkungsvermögens.
Deshalb tendiert jede Budo-Übung sowohl zur maximalen Wirksamkeit als auch zur Kontrolle, was in der Gesamtverfassung des Menschen das Gleichgewicht zwischen Streben und Achten ausdrückt. Das Gleichgewicht zwischen beiden bewirkt ein gesundes Verhältnis zur Welt. Die Verwirklichung nur einer dieser Haltungen ist nach der Budo-Lehre falsch, denn sie führt entweder zur Vernichtung der Welt (Wirken ohne Achtung) oder zum Rückschritt ins Dulden (Achten ohne Wirkung).
Deshalb ist auch das Üben von wirkungslosen Techniken eine Verletzung dieses Grundsatzes und führt zu einer inneren Fehlhaltung, der das notwendige Korrigens fehlt: Der Mensch braucht nicht zu achten, weil er nicht wirken kann. Dies ist weder der Sinn des Lebens noch der Sinn des Budo. Die Übung des Budo ist eine Herausforderung an alle Grenzen im Menschen und kann jede Fehlhaltung korrigieren, wenn der «Mittlere Weg» eingehalten wird.

Artikel  von Werner Lind