Lerne deinen Geist zu kontrollieren und befreie ihn erst danach

Dieser Leitsatz ist ein Grundprinzip des japanischen Bushido und wurde ursprünglich als Zen-Weisheit von dem chinesischen Meister Nan-ch’üan (Nansen Fugen) formuliert. „Heijoshin kore michi“ bedeutet wörtlich „das gewöhnliche Bewusstsein ist der Weg“ und bezeichnet im übertragenen Sinn den ruhigen und unerschütterlichen Alltagsgeist, der die Grundlage jeder klaren Handlung ist. Dasselbe Prinzip, um dessen Verständnis sich alle früheren Kampfkunstexperten bemühten, wurde von Miyamoto Musashi auch als „Iwao no mi“ bezeichnet.
Der Überlebensinstinkt bewirkt in der Natur ganz selbstverständlich das Prinzip des „Fressens und Gefressenwerdens“. Dies ist auch die Grundlage der Kriege, und deshalb muß dabei der Krieger seinen Feind töten, wenn er selbst überleben will. Von dieser Notwendigkeit ausgehend, wurde die Philosophie des „Heijoshin kore michi“ entwickelt und als Basis aller Kriegsmethoden betrachtet. Diese Philosophie besagt, daß die größte Überlebenschance des Kriegers darin besteht, in seiner äußeren Erscheinung immer gleich zu sein, egal was passiert oder was ihm begegnet. Diese Haltung der perfekten Selbstbeherrschung kann ihn vor dem Gefressenwerden bewahren, und deshalb soll er sich auch im Alltag darin üben, um sie in allen Situationen beherrschen zu lernen. Tut er dies, wird er auch in Situationen, in denen sein Leben in Gefahr ist, einen ruhigen Geist bewahren und dadurch zum gegebenen Zeitpunkt das Richtige tun. Selbst wenn er dem Tod ins Auge sieht, seine Haltung muß unbeeindruckt bleiben – zuversichtlich, ruhig und unerschütterlich nach außen und hellwach, geistesgegenwärtig und aufmerksam nach innen.
Heijoshin kore michi ist also eine notwendige Geisteshaltung in jeder Lebenssituation. Diese Philosophie hat nur wenig mit den Lehren des Zen, des Shinto, des Konfuzius oder des Lao-tzu zu tun, denn sie wurde eigentlich aus der Realität der Kriege geboren und ist allen Völkern der Erde, die Kriege geführt haben, als Überlebensstrategie bekannt. Ein Krieger, der sich in diesem Geist geübt hatte, war seinem Feind in allen Belangen überlegen. Die Samurai gingen viele und schwierige Wege, um diese Philosophie zu verwirklichen, und merkten dabei bald, daß die Meditationsübungen des Zen ihnen dazu nützlich sein konnten. Da diese im Prinzip Heijoshin kore michi im Auge haben, waren sie den Samurai sehr willkommen, denn die Beherrschung des Geistes durch Meditation, die im Zen angestrebt wird, kann leicht auf die Kriegsmentalität übertragen werden und erhöht so die Chancen, im Kampf zu überleben.
Auch in anderen Kulturen übte man sich in Heijoshin kore michi. Nicht überall ging man die asketischen Wege der japanischen Krieger, um zu einem angstbefreiten Geist vorzudringen. Doch alle Krieger wußten, daß dieser Geist nur durch eiserne Selbstdisziplin zu erlangen ist. Todesmut, hohes Ehrgefühl und viele andere Eigenschaften, die überall in der Welt der Kriegerkaste als Haltungsübung dienten, waren immer Prüfstein für das Erreichen des tapferen Kriegergeistes. Keine Form des natürlichen Lebens kennt das freiwillige Sterben für ein ideelles Ziel. Doch das «Sterben-Können», das «Sich-opfern- Können» für ein ideelles Ziel ist wohl die stärkste Kraft überhaupt, die ein menschliches Wesen entwickeln kann. Sinn und Wert des Budo bestehen dann, die Opferbereitschaft zu üben, ohne dem Wahn zu verfallen, mit dieser Kraft Kriege führen zu müssen. Dies ist eine der wertvoltsten Methoden, die zur Formung einer reifen Persönhchkeit je von Menschen erdacht wurde.
Deshalb ist es auch in den Kampfkünsten, wie sie heute ausgeübt werden, von besonderer Bedeutung zu lernen, den Geist zu beherrschen, zu kontrollieren und zu lenken. Die Technik ist dazu nur das Mittel. Die eigentliche Lehre besteht in der angewendeten Dojokun im engeren und weiteren Sinne. Die Übung der Kampfkünste verliert ohne diesen Aspekt ihren Wert und gleitet in die Oberflächlichkeit ab. Auch das Studium des Zen oder anderer Philosophien führt nur über das Opfer zum Ziel. Andernfalls bleibt alles nur Theorie.

Artikel von Werner Lind