Im Allgemeinen unterscheidet sich der buddhistische Zugang zur Ethik sehr vom westlichen. In der westlichen Kultur finden wir grundsätzlich eine Mischung aus zwei ethischen Systemen, von denen das eine die Bibel und das andere das antike Griechenland zum Hintergrund hat.
Aus biblischem Hintergrund leiten sich eine Reihe von ethischen Gesetzen ab, die von einer höheren Autorität erlassen wurden. „Ethisch zu sein“ bedeutet hier grundsätzlich, dass man den Geboten gehorcht. Folgen wir den Geboten, so sind wir „gut“ oder „gute Menschen“ und werden im Himmel unsere Belohnung erfahren. Folgen wir den Geboten nicht, so sind wir „schlecht“ und werden hierfür nach dem Tode bestraft. Ethik ist hier also tatsächlich eine Frage des Gehorsams gegenüber dieser höheren Autorität. Immer fragen wir uns: „was muss oder sollte ich tun?“ Immer liegt diese Vorstellung des „Du sollst“ vor – „Ich muss dies tun, doch ich tue es nicht, deshalb bin ich schlecht und schuldig“. In dieser Weise werden wir unsicher und verlieren unser Selbstbewusstsein, da wir immer wissen wollen: „Was sollte ich tun?“
Im antiken Griechenland gab es ebenfalls eine Reihe von Gesetzen. Bei diesen handelte es sich allerdings nicht um die Gebote einer göttlichen Autorität, sondern vielmehr Gesetze, die von den Bürgern geschaffen wurden. Die Repräsentanten der Bürger versammelten sich in einer Legislatur, um zum Wohl und zur Pflege der Gesellschaft Gesetze zu erlassen. Ab dann ist wieder alles eine Frage des Gehorsams: wir müssen den Gesetzen gehorchen. Wenn wir dies tun, sind wir nicht bloß gute, moralische Menschen; nein, jetzt sind wir auch „gute Bürger“. Folgen wir den Gesetzen dagegen nicht, dann sind wir „schlechte“ Menschen und müssen eine Strafe zahlen oder ins Gefängnis gehen.
Unsere westliche Ethik ist also eine Kombination aus diesen Systemen, die beide im Gesetzesgehorsam begründet sind. Bei der buddhistischen Ethik verhält es sich vollkommen anders. Als Westler, die sich dem Buddhismus nähern, werden wir oft verwirrt, da wir erwarten, dass der Buddhismus uns sagt, was wir „tun und lassen müssen“. Wenn wir die ethischen Lehren des Buddhismus betrachten, tendieren wir daher dazu, sie als etwas in der Art von biblischen Geboten oder juristischen Gesetzen anzusehen.
Die buddhistische Ethik hat einen vollkommen anderen Ausgangspunkt. Sie geht von Buddhas Hauptlehren aus – den Vier Edlen Wahrheiten bzw. den Vier Tatsachen des Lebens. Grundsätzlich gesagt ist das Leben hart und schwierig. Doch es gibt hierfür eine Ursache, und wenn wir uns von den Schwierigkeiten im Leben befreien wollen, so müssen wir die Ursache der Schwierigkeiten beseitigen. Dies ist der Zusammenhang, in dem Buddha lehrte, dass uns bestimmte Verhaltensweisen Probleme und Unglück schaffen. Wenn wir uns selbst Leiden ersparen wollen, müssen wir diese Verhaltensweisen vermeiden. Wenn es uns egal ist, wie viele Probleme wir uns selbst schaffen, dann ist das in Ordnung. Machen Sie einfach so weiter und verhaltet Sie sich weiter so! Jeder hat die Wahl.
Im Unterschied zur Bibel stellte Buddha keinerlei moralische Gebote auf. Er sagte nie: „Du musst dies tun, und wenn du es nicht tust, dann bist du böse.“ Vielmehr sagte Buddha: „ Wenn du dies tut, schaffst du dir selbst Schwierigkeiten. Wenn du diese Schwierigkeiten nicht willst, dann hör auf, dich so zu verhalten.” Verhält man sich weiterhin in einer Weise, die einem selbst Probleme schafft, dann macht das einen nicht zu einem „schlechten Menschen“, ebenso wenig wie es einen zu einem „guten Menschen“ macht, sich von diesen Handlungen zurückhalten. Wenn man sich weiter in einer Weise verhält, die einem selbst Probleme schafft, dann ist man dumm und das ist schade. Wenn man aufhört, sich so zu verhalten, dann ist man weise. Das ist alles.
In der buddhistischen Ethik spielt also die Wahl unserer Verhaltensweisen eine wichtige Rolle. Die buddhistische Schulung zielt darauf ab, konstruktive Geisteshaltungen zu entwickeln, wie beispielsweise die Entsagung. Nachdem wir unsere Probleme untersucht haben, kommen wir zum Schluss: „Das macht keinen Spaß. So etwas möchte ich nicht mehr.“ Dann entscheiden wir uns mit der Entsagung, voller Entschlossenheit, dass wir uns von diesen Problemen befreien müssen. Genauer gesagt fassen wir den Entschluss, uns selbst von ihnen zu befreien. Niemand außer uns selbst wird uns befreien. Deshalb müssen wir den Ursachen der Probleme, die in uns selbst liegen, entsagen. Wir werden es unterlassen, die Ursachen zu setzen, damit die Probleme, die aus ihnen entstehen, nicht mehr zustande kommen.
Nehmen wir als Beispiel, dass unsere Probleme aus unserer schrecklichen Wut oder aus unserer zwanghaften Anhaftung entstehen. Da wir wünschen, diese Probleme nicht mehr erleben zu müssen, entwickeln wir ihnen und ihren Ursachen gegenüber die Entsagung. Wir bauen eine entschlossene Geisteshaltung auf, in der wir denken: „Ich will versuchen, mich zu verändern. Ich bin bereit dazu, meine Reizbarkeit und meine Wut aufzugeben. Ich bin bereit dazu, meine Anhaftung aufzugeben. Ich will versuchen, dies zu schaffen.“ Wenn wir nicht die Bereitschaft haben, unsere negativen Charakterzüge aufzugeben, dann ist es uns unmöglich, wahre Fortschritte in der buddhistischen Praxis zu machen.
Wenn wir das Ritual einer Puja bloß rezitieren und durchführen, aber nicht dazu bereit sind, unsere Anhaftung oder unsere Wut aufzugeben, dann wird das kaum eine Wirkung auf unsere destruktiven Persönlichkeitszüge haben. Dies liegt daran, dass wir dann keine der positiven Geisteshaltungen, die wir in der Puja entwickeln, in unserem alltäglichen Leben anwenden werden. Das Ritual wird dann lediglich eine Art Nebenbeschäftigung sein, die wir zum Spaß machen, wie wenn wir uns jeden Abend eine Fernsehsendung anschauen. Sind wir also wirklich daran interessiert, uns von unseren Problemen zu befreien, dann erlangt das Thema der buddhistischen Ethik eine zentrale Bedeutung.
Bei der buddhistischen Praxis ist es wichtig, Heucheleien zu vermeiden. Wonach suchen die meisten Menschen, die mit dem Buddhismus in Kontakt kommen, wenn sie sich selbst ehrlich prüfen? Den meisten geht es nicht wirklich um die Erleuchtung und noch nicht einmal um die Befreiung. Die meisten Menschen wollen einfach ihre samsarische Situation – ihr normales, alltägliches Leben – etwas verbessern.
Nun, das ist in Ordnung. Buddha lehrte Methoden, mit denen man Samsara verbessern kann, indem man eine bessere Wiedergeburt erlangt. Das ist ein Teil der buddhistischen Lehren. Die meisten von uns glauben jedoch noch nicht einmal an zukünftige Leben wie sollten wir dann ein Interesse daran verspüren , diese zu verbessern? Uns geht es bloß darum, Samsara in diesem Leben zu verbessern, jetzt sofort. Auch das ist in Ordnung. Doch man sollte nicht unehrlich sein und niemandem etwas vormachen indem man sagt: „Ich arbeite daran, zum Wohl aller Wesen ein Buddha zu werden“, wenn dies tatsächlich überhaupt nicht das eigene Ziel ist. Die Ethik, der man folgen muss, um die Erleuchtung zu verwirklichen, ist selbstverständlich die selbe, die auch Samsara verbessert. Wenn wir aber ehrlich und realistisch in Bezug auf unsere Ziele sind, dann werden wir nicht so viele Schwierigkeiten haben, der buddhistischen Ethik zu folgen.
Einer der Punkte, mit denen wir uns hier beschäftigen müssen, ist, noch einmal, dass die meisten von uns sich dem Buddhismus aus einem jüdisch-christlichen Hintergrund nähern. Daher haben wir die Tendenz zu denken: „Ich muss mich um die Erleuchtung bemühen, denn dann bin ich ein guter Mensch, ein guter Schüler, ein guter Buddhist. Wenn ich nicht daran arbeite, die Buddhaschaft zu erlangen, und wenn ich nicht allen helfe, sondern bloß Samsara verbessern will, dann bin ich ein schlechter Mensch, ein schlechter Schüler und ein schlechter Buddhist.“ Hier liegt die Betonung wieder auf dem „Du sollst“. Wir orientieren uns an dem, was wir tun „sollten“.
Im Buddhismus ist es anders. Wir versuchen in einer für uns angebrachten Weise Fortschritte zu machen, auf der Ebene, auf der wir stehen. Es gibt kein „Du sollst.“ Es gibt kein „Wenn du dies tust, dann bist du ein guter Mensch, und wenn du dich auf einem früheren Stadium befindest, dann ist das schlecht.“ Wir können nicht sagen: „Es ist gut, ein Erwachsener und schlecht ein Kind zu sein. Daher musst du, auch wenn du ein spirituelles Kind bist, ein spiritueller Erwachsener sein und dich wie einer verhalten.“
Wenn man der buddhistischen Ethik folgen will ist das Wichtigste daher, dass man das Verhältnis zwischen verhaltensbedingter Ursache und Wirkung versteht. Das bedeutet Folgendes: wir müssen die Beziehung verstehen, die besteht zwischen unserem Verhalten und dem Maß an Glück oder Leid, das wir infolge unseres Verhaltens erleben. Das ist der zentrale Punkt. Wenn wir von der Existenz dieser Beziehung nicht überzeugt sind, dann gibt es keinen Grund, dem buddhistischen System der Ethik zu folgen.
Betrachten wir das, was der Buddhismus als „destruktives Verhalten“ bezeichnet, dann ist es ein Verhalten, das von Wut, Anhaftung, Gier oder Unwissenheit motiviert wird. Dies sind die wichtigsten störenden Emotionen. Störende Emotionen sind geistige Zustände, die unseren inneren Frieden stören und uns unserer Selbstkontrolle berauben. Einige Erklärungen fügen dem hinzu, dass das destruktive Verhalten außerdem immer von einem doppelten Manko begleitet wird. Erstens von einem Mangel an ethischer Selbstachtung. Zweitens von einer mangelnden Rücksicht dafür, welches Licht unser Verhalten auf andere Menschen wirft – etwa auf unsere Eltern oder auf unsere spirituellen Lehrer. Aus der Sicht der Karmalehre steht fest, dass ein Verhalten, das durch diese störenden Emotionen und derartige Geisteszustände verursacht wird, zwangsläufig zu Leiden führt. Es wird als Leiden „zur Reifung kommen.“
Nun müssen wir diese Aussage verstehen. Es ist nicht so einfach. Wir sprechen nicht davon, welche Wirkungen unsere Handlungen auf jemanden anderes haben werden, da diese unsicher sind. Es kann etwa geschehen, dass wir jemandem voller Liebe Blumen schenken, und dann verursachen diese beim Beschenkten einen Allergieanfall und machen ihn sehr krank. Es kann geschehen, dass man das Auto einer Person stiehlt und sie dadurch äußerst glücklich macht, da sie den Wagen ohnehin loswerden wollte und nun das Versicherungsgeld kassieren und einen neuen Wagen kaufen kann. Es ist also unsicher, ob unsere Handlungen bei den anderen Glück oder Unglück schaffen werden. Obwohl wir uns natürlich bemühen, Anderen nicht zu schaden, wissen wir trotzdem nie, wie sie es erleben werden. Wir kochen einem Gast ein wundervolles Mahl und dann verschluckt er sich daran und stirbt. Wie können wir wissen, was passieren wird?
Nach Aussage der buddhistischen Lehren gibt es hingegen keine Zweifel darüber, wie sich unsere Handlung auf uns selbst auswirken werden. Hierbei geht es nicht um die unmittelbaren Wirkung unserer Handlungen: ein Vergewaltiger beispielsweise mag unmittelbar durchaus die für ihn genussreiche Erfahrung eine Orgasmus machen. Es geht also nicht um den Glückspegel, der sich als unmittelbares Ergebnis der Handlung ergibt. Vielmehr geht es um Dinge, die man langfristig erleben wird: um die langfristige Wirkung auf unseren Geist und auf das, was wir in Zukunft im Allgemeinen erleben werden. Diese ist das Ergebnis der Neigungen und Gewohnheiten, die wir in uns aufbauen.
Im Falle einer außerehelichen Affäre beispielsweise kann man momentan glücklich sein, wenn man mit dem anderen Partner zusammen ist. Doch selbst wenn wir die Partnerprobleme unerwähnt lassen, die man aufgrund eines solchen Verhaltens in zukünftigen Leben haben wird, wird man auch in diesem Leben zweifellos zahlreiche Schwierigkeiten in der eigenen Familie erleben. Es geht hier also nicht um das unmittelbare Vergnügen, das eine sexuelle Affäre verschaffen mag, sondern vielmehr um ihre langfristige Wirkung.
von Alexander Berzin